Erzwungene Kehrtwende der CDU:Markenkernausstieg

Richtig konservativ - das war vor dem Tsunami: Das Atomunglück von Fukushima stellt für die CDU eine Zäsur dar. Nie zuvor hat eine Regierung so abrupt den Kurs gewechselt.

Stefan Braun

Die CDU hat im Augenblick nicht viel Zeit zum Nachdenken. Sie muss vor allem eines: funktionieren. Und das heißt: Der ganze Apparat der Partei muss in nicht mal mehr zwei Monaten das Kunststück fertigbringen, auf allen Ebenen den wohl dramatischsten Kursschwenk ihrer Geschichte durchzusetzen. Kanzleramt und CDU-Führung sind deshalb voll damit beschäftigt, in Regierung, in Fraktion, in den Ländern und an der Basis möglichst viele, ja alle auf die neue Linie einzuschwören.

BUND fordert festhalten am Atomausstieg

Plakat von Kernkraftgegnern aus dem Jahr 2009: Das Atomunglück von Fukushima ist für die CDU nicht nur eine Zäsur in der Energiepolitik.

(Foto: ddp)

Ein Hintergrundgespräch folgt auf das nächste; der Generalsekretär organisiert Konferenzen für die Basis; der Umweltminister tourt durch die Landesverbände, und die Kanzlerin hat bis zum Osterurlaub die Umwelt-, Wirtschafts- und Energieexperten empfangen. Reden, überzeugen, glaubwürdig die Wende begründen, das ist die Aufgabe. Denn bis Mitte Juni sollen die Grundzüge des Atomausstiegs unter Dach und Fach sein. Ein Mitglied des Präsidiums fasst das in einem Satz zusammen: "Derzeit läuft die größte Werbekampagne der Parteigeschichte."

Das Atomunglück von Fukushima ist für die CDU deshalb nicht nur eine Zäsur in der Energiepolitik. Es zwingt die Partei in eine Disziplin und Geschwindigkeit, wie sie selbst Christdemokraten nicht oft erleben. Dem Tsunami von Japan folgt für die CDU ein Sturm der politischen Neuorientierung. Nie zuvor hat eine Regierung so abrupt und rasant den Kurs gewechselt und die Überzeugungen der Partei gleich mit über Bord geworfen. Mancher mag denken, dass die Atomkatastrophe eine einmalige Reaktion verlangt hat. Doch drei Wochen nach der Niederlage in Baden-Württemberg zeichnet sich ab, dass dieses Vorgehen keine Ausnahme bleiben wird, sondern Vorbote ist für eine neue Zeitrechnung.

Der Pragmatismus wird zum Kernprogramm der Regierung; und die Programmatik der Partei verliert an Bedeutung. Ein Skeptiker des neuen Kurses fürchtet schon, dass "unsere alten Überzeugungen zur Grundlage für die Traditionspflege zusammenschrumpfen." Ein stellvertretender Parteichef beschreibt es pragmatisch: "Wir dürfen uns nicht mehr darum kümmern, wie wir alte Überzeugungen in die Gegenwart retten. Wir müssen die bürgerlichen Antworten auf die Fragen der Zukunft finden." Und ein Kabinettsmitglied wird trotzig: "Wir erleben dramatische Veränderungen - da bleibt keine Zeit, um andauernd über unsere Glaubwürdigkeit nachzudenken."

So weit würden die meisten in der Parteispitze nicht gehen. Sie wissen zu genau, dass gerade die mangelnde Glaubwürdigkeit bei der Energiewende bislang das größte Problem ist. Aber viele rund um die Vorsitzende Angela Merkel haben erkannt, dass nicht nur das Atomunglück für sie die Welt verändert hat, sondern auch seine Vorgeschichte. Diese Vorgeschichte heißt "Herbst der Entscheidungen"; und dessen Höhepunkt war der Bundesparteitag in Karlsruhe Mitte November.

Was sich für die eigenen Leute wie Entschlossenheit, Klarheit, programmatische Kraft anfühlte - die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke - hat der gesamten Partei den falschen Weg gewiesen. "Wir haben uns betäuben lassen", kritisiert ein CDU-Bundesminister, "das Gefühl des Parteitags, dass wir endlich mal wieder richtig konservativ sein durften, hat sich als nicht mehr praxistauglich erwiesen."

Mit anderen Worten: Unter Merkels engsten Getreuen, bei den Gröhes, Altmaiers, Pofallas, Schavans und Hintzes hat die Katastrophe von Japan den Blick auf das große Ganze verändert. Sie müssen schmerzhaft lernen, dass der CDU ausgerechnet das vermeintlich schöne, weil alte Überzeugungen pflegende Gefühl von Karlsruhe zum Verhängnis wurde. In Karlsruhe hatte Merkel Schwarz-Grün als Hirngespinst abgetan; in Karlsruhe hatte die Partei sich für den entschlossenen Atomkurs gefeiert; in Karlsruhe regierte zur Rettung der schwarz-gelben Identität die Abgrenzung zum politischen Gegner. "Genau das konnten wir nach dem Tsunami nicht mehr ausgleichen", klagt ein Mitglied der Parteispitze im Rückblick, "zur Strafe haben wir unser Herzland Baden-Württemberg verloren."

Angela Merkel als Rallye-Kanzlerin

So groß Zorn und Enttäuschung über diese Niederlage sind, so entschlossen sind die meisten rund um Merkel, sich auf das alte Ringen zwischen den Liberalen und den Konservativen nicht länger einzulassen. "Der Konservatismus", so sagt es einer aus Merkels engstem Umfeld, "ist im 21. Jahrhundert nicht mehr anschlussfähig." Viel zu lange habe man sich mit der Frage beschäftigt, wer wann wie Rücksicht auf die vermeintlich so vielen Konservativen in der CDU nehmen sollte. Tatsache aber sei, dass es in der Partei "so gut wie keinen wirklich konservativen Politiker" mehr gebe - und die Ursache dafür liege nicht in deren Verdrängung, sondern "in der Anpassung der meisten Christdemokraten an eine sich schnell ändernde Gesellschaft".

Das Problem der Glaubwürdigkeit ist damit nicht erledigt. Je schneller der Wandel, desto größer die Gefahr, nicht mehr glaubwürdig zu erscheinen. Es sei denn, man verzichtet auf langfristig ausstrahlende Parteiprogramme und setzt auf die Flexibilität der Frontfrau. Genau dieses Denken macht sich unter vielen Merkelianern breit, ausgelöst durch den Druck rasant wechselnder Großprobleme. Ein enger Vertrauter Merkels: "Politik wird immer unkalkulierbarer. Guttenberg, Fukushima, Libyen - kein Mensch hätte das vor zwei Monaten für möglich gehalten." Was früher Stoff für eine Legislatur gewesen wäre, presse sich heute in wenige Wochen. "Die Umlaufgeschwindigkeit stellt rationale Gestaltung von Politik immer mehr in Frage."

Das klingt ziemlich verzweifelt und ist auch so gemeint. Viele fühlen sich am Limit, viele in Kabinett und Parteispitze haben - mindestens jetzt - den Traum von der langen Linie aufgegeben. Sicher, in Verschnaufpausen suchen sie nach der Basis für eine "bürgerliche Moderne". Zurzeit aber ziehen sie ihre Hoffnung aus etwas anderem. Einer von ihnen drückt die so aus: "Es gibt keine Partei in Deutschland, die so eine Reaktionsgeschwindigkeit auf politische Veränderungen zeitigt wie die CDU."

Gemünzt auf die Kanzlerin kann man das auch so übersetzen: Für ihre Mitstreiter ähnelt Angela Merkel mehr und mehr der Pilotin in einem Rallye-Auto, die wahnsinnig aufpassen muss, bei den vielen Richtungswechseln nicht aus der Kurve getragen zu werden. Und weil ihr das bislang gelingt, soll keiner jammern, dass sie dabei wenig auf den Rückspiegel achtet.

Für die Partei wird das nicht ohne Folgen bleiben. Sie ist zumindest derzeit nicht der Ort, um Inhalte zu prägen. Stattdessen muss sie mehr und mehr helfen, den Menschen Entscheidungen zu erklären. "Je weniger wir uns an Altem orientieren, desto besser müssen wir uns begründen", heißt es in der Parteispitze. So muss aus der Denkfabrik eines Heiner Geißler eine Kommunikationsmaschine für die Rallye-Kanzlerin werden.

"Ich kann mir die Welt nicht malen", hat dieser Tage ein Merkel-Freund gesagt. Er klang dabei wenig optimistisch. Nur eines könne man immerhin festhalten: "Die Merkel-CDU schafft es seit elf Jahren, zusammenzubleiben, obwohl es wahnsinnig anstrengt." Was er mit Anstrengung meint? "Angela Merkel ist seit 2005 Kanzlerin. Aber sie hat noch keine einzige Wahl erlebt, die sie als Bestätigung ihrer selbst feiern konnte."

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