Erster Weltkrieg:Wie der kleine Jack der kaiserlichen Marine trotzte

Attack on Orleans

"Widerstandskraft des American Spirit": Jack Ainsleigh nach der Schlacht von Orleans.

(Foto: Aus der Sammlung von William P. Quinn)
  • Vor hundert Jahren ereignet sich in Massachusetts eine skurrile Episode des Ersten Weltkriegs: Der einzige Angriff auf US-amerikanischen Boden.
  • Das deutsche U-Boot U 156 beschießt dabei ein Küstenstädtchen, versenkt vier Holzkähne - und liefert Stoff für eine amerikanische Heldengeschichte.

Von Gunnar Herrmann

21. Juli 1918, ein schöner Sommersonntag beginnt an der nordamerikanischen Ostküste. Die Sonne vertreibt die Spuren des Frühnebels, der noch über dem Atlantik vor der Halbinsel Cape Cod hängt. Im Küstenstädtchen Orleans gehen die Menschen ihren Geschäften nach oder besuchen den Gottesdienst. Vor dem Hafen schippert der Dampfer Perth Amboy über die See, mit vier Frachtkähnen im Schlepptau, darunter die Lansford, deren Kapitän Charles Ainsleigh die Ereignisse später so beschreiben wird: "Von einem ruhigen Sonntagmorgen verwandelte sich alles in einer oder zwei Minuten in Chaos und Verwirrung." Es ist der Tag, an dem Erste Weltkrieg in Gestalt eines deutschen Unterseebootes nach Amerika kommt. Um 10.30 Uhr erspäht einer der Seeleute auf der Perth Amboy eine graue Masse, die plötzlich aus dem Meer auftaucht. "U-Boot", schreit der Mann. Augenblicke später schlagen die ersten Geschosse der Bordkanone ein

32 Menschen sind an Bord der fünf Schiffe. In den Sommermonaten leben die Besatzungen mit ihren Familien auf den Frachtkähnen. An Bord der Lansford sind neben Kapitän Charles Ainsleigh auch seine Frau Marguerite und seine Söhne Charles und Jack. Sie werden nun unfreiwillig Zeuge einer seltsamen Fußnote der Weltkriegsgeschichte, der "Schlacht von Orleans". Es ist das einzige Mal in diesem Krieg, dass das amerikanische Festland einem direkten Angriff ausgesetzt ist.

Die ersten Schüsse sind noch ungenau und landen im Wasser, aber dann erfasst der Schütze auf U156 seine Ziele. "Eines nach dem anderen trafen uns die Geschosse bis fünf oder sechs Löcher in unserem Boote waren. Eines der deutschen Geschosse war Mittschiffs explodiert und hatte die Deckluken von innen aufgesprengt", wird Kapitän Ainsleigh später im Boston Globe zitiert. "Es gab einen blendenden Blitz, ich war halb betäubt. Blut lief an meinen Händen und Armen herab."

Der Attacke auf das Küstenstädtchen durch U 156 der kaiserlichen Kriegsmarine ist eine Weltsensation, die in den folgenden Tagen um den Globus rast. München zum Beispiel erreicht die Nachricht am 24. Juli in Form einer Meldung auf der ersten Seite der Münchner Neuesten Nachrichten. "U-Bootsangriff an der amerikanischen Küste", lautet die Überschrift. Ein Schlepper und Barken seien versenkt worden, heißt es im Text. Und nicht ganz korrekt: "Verletzte waren nicht zu verzeichnen." Die ganze erste Seite dieser Ausgabe der Münchner Neuesten Nachrichten ist dem Seekrieg gewidmet. "Die Juni-Beute der U-Boote: 521 000 Tonnen" verkündet die Schlagzeile. Der Bericht über einige Tausend Gefallene in der Marne-Schlacht, die zu diesem Zeitpunkt tobte und heute als einer der Wendepunkte an der Westfront gilt, ist dagegen unten am Seitenende versteckt.

Warum weckten ein paar versenkte Kähne vor einer amerikanischen Kleinstadt damals so viel Interesse? Das Ereignis selbst ist für den Kriegsverlauf völlig unbedeutend. Aber das U-Boot ist im Ersten Weltkrieg noch eine relativ neue Erscheinung. Mit den Schiffen, die plötzlich wie aus dem Nichts auftauchen können, verbinden die Menschen große Erwartungen und Ängste. Die neuen Unterseeboote müssen damals vielen wie ein Wunderding direkt aus einem futuristischen Jules-Verne-Roman erschienen sein. Schillernd und schrecklich zugleich - etwa so faszinierend wie es heute Kampfroboter, intelligente Drohnen oder Cyberkriegsgeschichten für viele Menschen sind.

Besonders Deutschlands Marine zählte im Ersten Weltkrieg auf die neue Waffe. Schon 1915 hatte die Reichsregierung den uneingeschränkten U-Boot-Krieg befohlen, um den Handel mit Großbritannien zu stören. Nachdem U 20 im Mai 1915 das britische Passagierschiff Lusitania versenkt hatte, zog man diesen Befehl jedoch vorerst zurück. Bei der Attacke starben mehr als 100 US-Bürger und die USA drohten mit Kriegseintritt. Das wollte Berlin nicht riskieren. Später änderte die Admiralität ihre Strategie jedoch wieder - 1917 wurde der uneingeschränkte U-Boot-Krieg erneut aufgenommen. Die deutschen Militärs dachten, sie könnten auf diese Weise Großbritannien besiegen. US-Präsident Woodrow Wilson nahm die U-Boot-Angriffe dann tatsächlich zum Anlass, um auf Seiten der Alliierten in den Krieg einzutreten. Die Fahrt von U 156 nach Cape Cod war Teil einer größeren Offensive, der von Februar 1917 an eine ganze Reihe von britischen und amerikanischen Schiffen zum Opfer fielen.

"Sie verkörpern die wahre Widerstandskraft des American Spirit"

Trotzdem trifft der Angriff am 21. Juli die Menschen auf Cape Cod unvorbereitet. "Die Regierung in Washington hat so was vielleicht erwartet", sagt Autor Jake Klim, der ein Buch über die Schlacht von Orleans geschrieben. "Aber die Bevölkerung nicht. Zwischen uns und dem Krieg in Europa lag der gesamte Atlantik - wir fühlten uns so sicher." Klim ist Dokumentarfilmer und nur 20 Meilen von Orleans entfernt aufgewachsen. Das erste Mal hörte er in der Highschool von der U-Boot-Attacke. Die Geschichte hat ihn nicht mehr losgelassen. Zeitzeugen der Schlacht gibt es nicht mehr, aber für sein Buch hat Klim eine Menge Material in Archiven gefunden. "Ich möchte diese Geschichte lebendig halten", sagt er. Für ihn sind Menschen, die damals in Orleans den Deutschen trotzten, Helden. "Sie verkörpern die wahre Widerstandskraft des American Spirit."

Der Schaden in Orleans hält sich am 21. Juli 1918 zwar in Grenzen. Trotzdem ist der 90 Minuten dauernde einzige Beschuss amerikanischen Bodens im Ersten Weltkrieg natürlich lebensgefährlich. U 156 feuert nicht nur auf die Perth Amboy und die vier Kähne in ihrem Schlepptau. Das Boot beschießt auch die Stadt selbst. "Einige Leute bekamen Angst, waren durcheinander. Aber dann wurden sie wütend", beschreibt Klim die Szene. Schließlich versammeln sich etwa 1000 Menschen am Ufer. Manche besteigen Boote, um den unter Beschuss geratenen Seeleuten zu helfen. Einige ballern mit Schrotflinten in Richtung U-Boot. Andere sind einfach nur neugierig auf das Spektakel. Sie werden nicht enttäuscht. Bis heute ranken sich allerlei Geschichten um das Ereignis. Wenn es nicht so ernst wäre, könne man darüber lachen, sagt Pamela Feltus von der Orleans Historical Society, die zum 100-jährigen Gedenken eine kleine Feier am Strand und eine Ausstellung organisiert hat. "Was sich da abspielte, erinnert in Teilen an einen alten Slapstick-Film."

Die Mannschaften der Kähne und des Schleppers, der schwere Schlagseite bekommen hat, bringen sich in Rettungsbooten in Sicherheit. Kapitän Ainsleigh sagt seinen Söhnen, sie sollen ihre Sachen packen - die sinkende Lansford ist alles, was die Familie besitzt, an Bord ihr ganzes Hab und Gut. Der zehnjährige Jack, jüngster Spross des Kapitäns, rettet zwei Dinge ins Beiboot: Eine amerikanische Flagge und eine Flinte, die seinem älteren Bruder gehört. "Ich werde ein paar Deutsche erschießen, und wenn sie uns alle umbringen", ruft er - so überliefern es die Lokalzeitungen. Und während die Eltern das Rettungsboot ans sichere Ufer rudern, schwenkt Jack am Bug das Sternenbanner, während sein Bruder das Gewehr drohend in Richtung U-Boot hebt. Klim vermutet, dass der Vater ihn vernünftigerweise davon abhält, mit seiner Büchse auf die kaiserliche Marine zu feuern. Denn die hätte wohl zurückgeschossen. Feltus sagt, sie wisse aus sichere Quelle, dass es sich bei der Waffe ohnehin nur um ein Spielzeuggewehr gehandelt habe.

Inzwischen ist auch die per Telefon alarmierte Navy unterwegs. Ein erster Kampfflieger muss wegen technischer Mängel gleich nach dem Start wieder umkehren. Schließlich aber werfen zwei Flugzeuge der US-Navy Bomben auf U 156. Die stellen sich zwar als Blindgänger heraus, zwingen das Unterseeboot aber wohl schließlich zum Abtauchen. Feltus sagt, dass es wohl das eigentliche Ziel der Deutschen war, die Telegrafenleitung zu zerstören die bei Orleans in den Atlantik und bis nach Europa führt - eine wichtige Verbindung der US-Generäle zu den Truppen in Übersee. Dieses Ziel jedenfalls wird verfehlt, der Draht bleibt intakt. Alle 32 Besatzungsmitglieder der Perth Amboy und der Barken können sich in Sicherheit bringen. Neben Kapitän Ainsleigh, den umherfliegende Splitter an den Armen trafen, sind noch zwei Matrosen der Perth Amboy verletzt. Die Unglücklichen werden von der Polizei ins Krankenhaus eskortiert - denn sie sind Österreicher und ihre deutsch klingenden Nachnamen erwecken Misstrauen.

Ein Augenzeuge berichtet später, die 32 Geretteten seien bei ihrer Ankunft am Strand "cool" gewesen - "aber der coolste war der Junge mit der Flagge". Kapitän Ainsleigh ist mächtig stolz auf seinen Zehnjährigen: "Mein kleiner Junge Jack schien die ganze Affäre zu genießen und sein Mut ist wirklich bemerkenswert", zitiert ihn der Boston Globe. Das Ereignis, das in den Münchner Neuesten Nachrichten wie ein Sieg der kaiserlichen Marine erscheint - in amerikanischen Zeitungen ist es eine Geschichte über heldenhafte Kleinstadtbewohner, die nur mit Schrotflinten und Patriotismus bewaffnet die Deutschen verjagen. Pamela Feltus liebt besonders die Epidsode mit den Hühnern der Ainsleighs. Die Familie hatte die Vögel an den Strand gerettet, dann aber dort zurückgelassen. Ein paar Kinder schnappten sich die Beute und verkauften die Hühner der Helden für den sagenhaften Betrag von 80 Dollar. "Das ist so typisch Cape Cod", sagt Feltus. "Hier wurde immer schon alles, was am Stand angespült wird, zu Geld gemacht." Die Diebe wurden in diesem Fall allerdings erwischt, deren Eltern spendeten das Geld ans Rote Kreuz.

Attack on Orleans

Der kleine Jack Ainsleigh und sein großer Bruder Charles.

(Foto: Aus der Sammlung von William P. Quinn)

Für U 156 nimmt die Fahrt dagegen kein gutes Ende. Obwohl der anfängliche Erfolg von Orleans noch ein Weilchen anhält. Kapitänleutnant Richard Feldt kreuzt einen Monat lang im Nordatlantik, bringt mehrere Fischdampfer auf und verbreitet Schrecken unter den Küstenbewohnern. Schließlich kapert die Mannschaft den kanadischen Trawler Triumph und benutzt das Schiff in Freibeutermanier, um andere in die Falle zu locken. Insgesamt versenkt U 156 bei diesem Einsatz knapp 30 meist zivile Schiffe. Doch die 77 Besatzungsmitglieder kehren nie mehr heim. Was genau mit ihnen geschieht, ist unbekannt. Die meisten Historiker gehen davon aus, dass U 156 bei der Rückfahrt irgendwo zwischen Schottland und Norwegen auf eine Mine lief und sank.

Auf Cape Cod endet die Episode weniger tragisch. Vier Kähne sind gesunken, aber der Schlepper Perth Amboy wird wieder flottgemacht. In Orleans erzählt man sich, dass er später im Zweiten Weltkrieg bei der Operation Dynamo zur Rettung eingekesselter britischer und französischer Truppen aus Dünkirchen eingesetzt wurde. Und auch da entrann das Boot der deutschen Kriegsmaschinerie. Wie um zu beweisen, dass ein alter Dampfer sich manchmal selbst von der modernsten Wunderwaffe nicht unterkriegen lässt.

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