Erster Weltkrieg:Morden an der Marne

Deutsche Soldaten graben sich an der Westfront ein, 1914

Neue Art der Kriegsführung: Ein deutscher Infanteriezug gräbt sich im Herbst 1914 während der Schlacht an der Marne am Rand eines Kornfeldes ein.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Frankreich gewinnt 1914 die Schlacht an der Marne, in der allein auf deutscher Seite 250 000 Mann sterben oder verletzt werden. Und doch ist sie nur der Beginn einer noch blutigeren Phase.

Von Hubert Wetzel

Karl Walter Limmer hatte wohl keine rechte Vorstellung davon, wo er da hineingeraten war. Und er hatte auch keine Ahnung von all dem Grauen, das noch bevorstand. "Immer noch wütet diese fürchterliche Schlacht, nun schon den vierten Tag!", schrieb der junge Soldat, Unteroffizier in einem sächsischen Infanterieregiment, am 9. September 1914 von der Front in Frankreich an seine Eltern.

"Die Granaten schlagen heute vor und hinter uns so häufig ein, daß man es als ein Geschenk Gottes betrachten muss, wenn man heil davonkam." Und weil man daheim mit dem Wort Schützengraben noch nicht viel anfangen konnte, setzte Limmer zur Erklärung hinzu: "Diesen Brief schreibe ich aus einem grabenartigen, etwa 40 cm tiefen, selbstgeschaufelten Lager der Schützenlinie."

Ende des Bewegungskrieges - Beginn des Stellungskrieges

Die "fürchterliche Schlacht", von der Limmer berichtete, war die Erste Schlacht an der Marne, die vom 5. bis 12. September 1914 an den Ufern des gleichnamigen Flusses östlich von Paris geschlagen wurde. In den Kämpfen gelang es den britischen und französischen Truppen nach Wochen der Niederlagen und des Rückzugs, den Ansturm der deutschen Armee aufzuhalten.

Der Erste Weltkrieg war damals gerade einen Monat alt - und doch war die Erste Marneschlacht bereits ein wichtiger Wendepunkt: Mit ihr endete der Bewegungs- und begann der mörderische Stellungskrieg an der Westfront. Der deutsche Angriff kam zum Stehen, nach einem kurzen Rückzug der Deutschen gruben sich die Armeen ein, die Front bewegte sich in den folgenden vier Kriegsjahren kaum noch. Jene "grabenartigen, selbstgeschaufelten" Deckungslöcher, von denen Limmer schrieb, wurden für die kommenden Jahre für Millionen Soldaten zu ihrem neuen Zuhause - oft genug auch zum Grab.

Anfang September 1914 war das noch nicht abzusehen. Die Marneschlacht bedeutete zunächst einmal nur, dass der ursprüngliche deutsche Kriegsplan gescheitert war, einen schnellen Sieg über Frankreich zu erringen.

Der sogenannte Schlieffen-Plan - benannt nach seinem Verfasser, dem 1913 verstorbenen ehemaligen deutschen Generalstabschef Alfred Graf von Schlieffen - sah dazu vor, dass der starke rechte Flügel der deutschen Armee durch das neutrale Belgien in Nordfrankreich einfallen und in einer gewaltigen Schwenkbewegung nach Südwesten auf Paris marschieren sollte.

Dabei sollte er die französischen Truppen gegen den schwächeren linken Flügel des deutsches Heeres in Lothringen drücken - wie ein Hammer, der von der Seite auf einen hochkant gestellten Amboss schlägt. In einer großen Entscheidungsschlacht sollte die französische Armee dann zwischen den beiden Flügeln zertrümmert werden.

Paris als "Wellenbrecher" des deutschen Ansturms

Geschwindigkeit war dabei entscheidend. Der deutsche Generalstab fürchtete, in einen Zweifrontenkrieg verwickelt zu werden, im Westen gegen Frankreich, im Osten gegen dessen Verbündeten Russland.

Der strategische Trick Schlieffens bestand darin, stattdessen zwei Einfrontenkriege zu führen: Das Gros der deutschen Armee sollte zuerst im Westen angreifen, Frankreich schnell besiegen, sich dann nach Osten wenden und Russland attackieren. Für den Westfeldzug gestand Schlieffen dem deutschen Heer knappe sechs Wochen zu. Am 40. Tag nach der Mobilmachung musste Frankreich geschlagen sein. So lange, das war die Erwartung, würde Russland benötigen, um seine Armee kampfbereit zu machen.

Auf dem Papier sah das wie ein militärisch spektakulärer, wenn auch politisch riskanter Plan aus, da die Verletzung der Neutralität Belgiens dessen Garantiemacht Großbritannien mit in den Krieg hineinziehen musste. Tatsächlich hatte der Plan aber eine fatale Schwäche: Mitten in der Vormarschroute des rechten deutschen Flügels lag Paris - "ein Wellenbrecher in der Flut des deutschen Ansturms", wie es der britische Militärhistoriker John Keegan ausgedrückt hat, und für die Deutschen ein unlösbares Problem.

Deutsche Infanterie bei einem Angriff an der Westfront, 1914

Deutsche Infanterie bei einem Angriff in den Argonnen 1914, an einem äußeren Flügel der Schlacht, die an der Marne tobte.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Denn Paris war damals noch eine befestigte Stadt, in der eine starke Garnison lag. Egal, ob die Angreifer westlich oder östlich der französischen Hauptstadt vorstießen - sie gefährdeten ihre Flanken. Schlieffen selbst, so Keegan, habe eingeräumt, dass der rechte deutsche Flügel um 200 000 Soldaten verstärkt werden müsste, um Paris auszuschalten. Nur: Es war logistisch unmöglich, diese enorme Menge an zusätzlichen Soldaten rechtzeitig dorthin zu bringen.

Keegans Fazit: "Schlieffens Plan für einen Blitzsieg war im Kern verfehlt." Schlieffen habe das gewusst, ebenso sein Nachfolger Helmuth von Moltke, der bei Kriegsausbruch Generalstabschef war. Beide hätten das Problem ignoriert. "Der Schlieffen-Plan blieb in der Schublade liegen, um im August 1914 hervorgeholt und - mit katastrophalen Folgen - umgesetzt zu werden."

Katastrophal waren die Folgen zunächst jedoch vor allem für die Alliierten - Belgier, Briten und Franzosen. Am 4. August 1914 überfielen deutsche Truppen Belgien, die Riesenhaubitzen von Krupp und Škoda zerschossen die Festungen in Lüttich und Namur, plündernd und mordend stürmte das deutsche Heer durch das kleine Königreich. Nur drei Wochen nach Kriegsbeginn überschritt der rechte deutsche Flügel die französische Grenze. Alle Abwehrversuche der französischen und britischen Armee waren vergebens.

Begünstigt wurde der deutsche Vormarsch dadurch, dass die Franzosen ihre eigene Offensive weiter südlich begannen, in den Ardennen, in Lothringen und im Elsass.

Jäger und Gejagte waren gleichermaßen erschöpft

'Mit dem Taxi an die Marne', 1914

Mit dem Taxi an die Front: Französische Soldaten werden mit konfiszierten Autos und Omnibussen an die Marne gebracht.

(Foto: Scherl/SZ Photo)

Während die französischen Soldaten dort in den sogenannten Grenzschlachten bei erfolglosen Angriffen zu Zehntausenden im Feuer deutscher Maschinengewehre starben, wälzte sich die Hauptmacht der deutschen Armee über eine vergleichsweise schwach verteidigte Route auf Paris zu. In den letzen August- und den ersten Septembertagen 1914 zogen sich die Alliierten in Nordfrankreich überall zurück, hart bedrängt von den vorrückenden Deutschen.

Es waren brutale Tage. Der Sommer 1914 war brennend heiß, die deutschen Truppen mussten - dazu zwang sie der Schlieffen-Plan - jeden Tag 20, oft 30 oder gar 40 Kilometer marschieren. Die Straßen wurden zu Staub zermahlen, der Nachschub kam nicht mit.

Die Soldaten beider Seiten waren ausgepumpt, hungrig, ihre Uniformen zerfetzt, ihre Füße blutig gelaufen - Jäger und Gejagte waren gleichermaßen erschöpft, schrieb die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman in ihrem Klassiker "The Guns of August". Immer wieder kam es zu harten Gefechten, bei Mons, Le Cateau, St. Quentin, die den deutschen Vormarsch verzögerten, aber nicht stoppen konnten.

Deutscher Durchbruch abgewendet: Die Schlacht an der Marne im September 1914

Deutscher Durchbruch abgewendet: Die Schlacht an der Marne im September 1914

(Foto: SZ)

Anfang September war die Lage der französischen Armee verzweifelt. Ihre eigene Offensive war gescheitert, halb Nordfrankreich war von den Deutschen besetzt. Lille war gefallen, Cambrai, Arras, Amiens - sogar Reims, die Krönungsstadt der französischen Könige.

Die Franzosen erwogen Paris aufzugeben

Die Deutschen hatten die Sambre und die Somme überschritten, ebenso Oise und Aisne und bedrohten Paris. Am 2. September floh die Regierung aus der Hauptstadt nach Bordeaux. Der französische Oberbefehlshaber, General Joseph Joffre, erwog, seine Truppen hinter die Seine zurückzunehmen und Paris aufzugeben. Nur ein Fluss lag noch vor den Deutschen: die Marne.

Die Franzosen nennen das, was in der zweiten Septemberwoche an der Marne und ihren Nebenflüssen - der Ourcq, dem Petit Morin, dem Grand Morin - geschah, bis heute "das Wunder an der Marne". Und sicher glich es einem militärischen Wunder, dass die britischen und französischen Truppen die Deutschen dort in einem letzten Aufbäumen aufhalten konnten.

Doch es gab auch profanere Gründe: Zum einen waren die deutschen Soldaten nach der Hatz durch Nordfrankreich ebenso abgekämpft und müde wie ihre Gegner. Zum anderen waren die britischen und französischen Armeen zwar schwer angeschlagen, aber eben nicht besiegt. Der lange Rückzug verlief einigermaßen geordnet, es war keine Flucht.

Moltke selbst war trotz aller Siegesmeldungen beunruhigt, weil die Deutschen nur wenige französische Gefangene gemacht hatten. Die französische Armee, so Tuchman, war in ernster Gefahr, aber sie "war weder gebrochen noch vom Feind eingeschlossen; sie kämpfte hart, und Joffre ließ keinen Zweifel daran, dass er weiterzukämpfen gedachte".

Der deutsche Feldherrr und das Glück der Franzosen

Einen Dienst erwies den Alliierten zudem der deutsche General Alexander von Kluck, Kommandeur der 1. Armee, jenes Truppenverbands, der am äußersten rechten Rand des deutschen Angriffsflügels marschierte.

Anstatt sich an Moltkes Befehl zu halten und Paris im Westen zu umgehen, verfolgte Kluck verbissen die britischen und französischen Truppen, um sie einzukesseln und zu vernichten. Dabei marschierte er östlich an Paris vorbei und stieß - wiederum entgegen seinen Befehlen - sogar bis über die Marne nach Süden vor. Als französische Aufklärungsflieger Klucks Marschroute meldeten, konnten die Generäle ihr Glück kaum fassen: Der deutsche General bot der Garnison Paris seine offene Flanke dar.

Zudem war durch Klucks Vorstürmen eine Lücke zwischen seiner 1. Armee und der östlich neben ihm stehenden 2. Armee entstanden. Der deutsche Hammerkopf hatte einen Riss bekommen. Joffre entschloss sich zur Gegenoffensive an der Marne - zu einer Schlacht, "von der das Schicksal des Landes abhängt", wie es in seinem Tagesbefehl vom 6. September hieß.

Die ersten Gefechte begannen am 5. September, in den Tagen darauf tobte entlang des gesamten Flusses, auf einer Länge von mehr als 300 Kilometern eine heftige Schlacht. Französische Einheiten griffen Klucks Armee von Westen aus an - einige Tausend Soldaten wurden per Taxi aus Paris an die Front gebracht -, zugleich attackierte die eilig verstärkte französischbritische Hauptmacht die Deutschen von Süden.

Die deutsche Angriffsfront wurde löchrig

Deutsche Soldaten im Graben während der Marneschlacht 1914

An der Marne 1914: Eine deutsche Infanteriespitze der Armee Kluck geht in Erwartung des französischen Gegenangriffs in Stellung.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Sie zielte vor allem in die Lücke zwischen 1. und 2. Armee, die immer weiter aufklaffte, da sich Klucks Einheiten gegen Paris, also weg von der 2. Armee wandten. Zwar kämpften die deutschen Divisionen durchaus erfolgreich. Doch die Armeen des rechten Flügels verloren die Verbindung zueinander. Die deutsche Angriffsfront zerbröckelte und wurde löchrig.

Militärhistoriker sind bis heute darüber uneins, wie gefährlich die Lage für die deutschen Armeen tatsächlich war. Ähnlich erging es damals den Kommandeuren: Kluck war lange Zeit zuversichtlich, einen Sieg erringen zu können. Der Befehlshaber der 2. Armee, General Karl von Bülow, sah die Lage hingegen düsterer.

Am 8. September schickte Moltke einen Stabsoffizier, Oberstleutnant Richard Hentsch, an die Front, um sich einen Überblick zu verschaffen. Dieser kam zu dem Schluss, dass die voneinander getrennten deutschen Armeen in großer Gefahr waren, aufgerieben zu werden. Daraufhin befahl zunächst Bülow einigen seiner Einheiten, über die Marne zurück nach Norden auszuweichen. So schützte er zwar seine Armee, vergrößerte aber auch den Abstand zur 1. Armee weiter.

Der 9. September war der entscheidende Tag der Schlacht. Obwohl Klucks Truppen die französischen Attacken abwehren konnten, wuchs wegen des Rückzugs der 2. Armee für die 1. Armee stündlich das Risiko, abgeschnitten zu werden. Um das zu vermeiden, musste auch die 1. Armee zurückgehen. Gegen 14 Uhr gab Kluck den Befehl, die Gefechte abzubrechen. Später bestätigte Moltke den Rückzugsbefehl.

Der zweite Teil der Schlacht bestand dann vor allem aus Nachhutgefechten, die den deutschen Rückmarsch sicherten. Nach der 1. und 2. Armee zogen sich in den folgenden Tagen - um ihre Flanken zu decken - auch die 3., 4. und 5. Armee zurück, die weiter im Osten gekämpft hatten.

Die Generäle lernten nichts aus dem Grauen der Marne

Mitte September marschierten die deutschen Truppen im prasselnden Regen über jenes Gelände zurück, dass sie einige Tage zuvor in erbitterten Kämpfen erobert hatten. Der Dichter Wilhelm Klemm, 1914 Arzt in einem Lazarett an der Westfront, hat seiner Frau den hastigen Rückzug in Briefen geschildert: "Ich vernähte gerade ein zerfetztes Gesicht, als es plötzlich hiess alles eiligst zurück. Wir hatten ca. 200 Verwundete aufzuladen! Es war eine furchtbare Scene", schrieb er am 12. September.

Einige Tage später musste das Lazarett weiter zurückgehen. "Die Nacht war stockdüster", schrieb Klemm. "Die Verwundeten merkten natürlich und krochen alle an die Strasse, man sah Leute mit zerschossenen Hüften und Oberschenkeln sich an Grasbüscheln vorwärtsziehen." Jetzt sind die Franzosen die Verfolger. "Hinter uns", schrieb Klemm, " Kanonendonner, der uns jagte."

Deutsches Feldlazarett an der Westfront, 1914

Ein deutscher Verbandsplatz einer Sanitätskompanie an der Westfront 1914. Vor dem Zelt erholen sich verletzte Soldaten, im Zelt wird operiert.

(Foto: SZ Photo/SZ Photo)

Als neue Stellung wählte Moltke das Nordufer der Aisne. Dorthin marschierten die deutschen Truppen und verschanzten sich. "Die erreichten Linien sind auszubauen und zu halten", lautete einer der letzten Befehle Moltkes, bevor er wegen der Niederlage an der Marne abgelöst wurde.

Diese Anweisung hatte furchtbare Folgen. Moltke legte damit das Fundament für den Stellungskrieg der nächsten vier Jahre. Aus den einfachen Schützengräben des Jahres 1914 wurden im Lauf des Kriegs fest ausgebaute, verschachtelte, mit Stacheldraht bewehrte Abwehrstellungen, in denen die Angreifer hängen blieben wie in einer feuerspeienden, stählernen Hecke. Trotzdem mussten die Soldaten immer wieder stürmen.

Die Soldaten machten Unmenschliches durch

Es gab die Erste und Zweite Marneschlacht, die Erste, Zweite, Dritte und Vierte Flandernschlacht, die Winterschlacht in der Champagne und die Herbstschlacht in der Champagne, die Herbstschlacht bei Arras und die Frühjahrsschlacht bei Arras, die Schlacht um Verdun, die Schlacht an der Somme, die Kaiserschlacht.

Die Soldaten machen dabei Unmenschliches durch. Hunger, Durst, Todesangst, Granaten, Gas, Schlamm, Ruhr und Ratten. Vor den Schützengräben - ein Wort, das in Deutschland bald jeder kannte - türmten sich die Leichen.

Die Verluste der Erste Marneschlacht hätten eine Warnung sein können. Etwa 230 000 britische und französische Soldaten fielen oder wurden verletzt, auf deutscher Seite waren es mehr als 250 000 Mann.

Einer der Toten war Karl Walter Limmer. Am 16. September 1914 wurde er bei Châlons-sur-Marne schwer verwundet. Am 24. September starb er an Wundstarrkrampf in einem Lazarett in Luxemburg. Er liegt dort auf dem deutschen Soldatenfriedhof im Stadtteil Clausen in Grab 69.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: