Münchner Neueste Nachrichten vom 3.8.1914:Das Märchen von den französischen Fliegern

Französischer Doppeldecker im Ersten Weltkrieg | French double decker in World war I

Ein französisches Panzerflugzeug, die Aufnahme soll 1914 entstanden sein. Bei den ersten Begegnungen in der Luft kam es angeblich zwischen den Gegnern noch zu Pistolenschüssen.

(Foto: Sueddeutsche Zeitung Photo)

Blick in die Zeitung: Deutschlands Krieg gegen Russland beginnt - doch was macht Frankreich? Die SZ-Vorgängerin berichtet von mysteriösen Luftangriffen, Ausländer werden ausgewiesen - und Heimatdichter Ludwig Thoma preist schwülstig den Krieg.

Von Oliver Das Gupta

Als die Leser der Münchner Neuesten Nachrichten am 3. August 1914 die Zeitung zur Hand zur Hand nehmen, erfahren sie Ungeheuerliches. "Feindliche Flieger im Lande", meldet das Morgenblatt. In Franken seien am Vortag auf die Bahnstrecken Nürnberg - Kissingen sowie Nürnberg - Ansbach Flieger aufgetaucht, die Bomben warfen. "Irgendwelcher Schaden" sei nicht angerichtet worden, berichtet die königlich bayerische Eisenbahndirektion.

Bayerns Kriegsministerium ruft Behörden, Gendarmen und die übrige Bevölkerung auf, die Wege von Flugzeugen aufmerksam zu verfolgen und die Besatzungen bei "etwaigen Havarien und unfreiwilligen Landungen" festzunehmen.

Der Weg in den Ersten Weltkrieg

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten 1914 über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Die Flieger über Nordbayern sollen aus Frankreich stammen, zumindest legt das der letzte Absatz der Meldung nahe. Aus Berlin käme die "offiziöse" Meldung, dass es keine Kriegserklärung zwischen Deutschland und Frankreich gebe. Der Angriff in Franken sei somit "ein Bruch des Völkerrechts".

Die SZ-Vorgängerzeitung schreibt in derselben Ausgabe noch von weiteren Grenzverletzungen, die angeblich auf Frankreich zurückgehen: Ein Luftschiff soll in Andernach gesehen worden sein, bei Köln wurden Flugzeuge beobachtet, in Wesel konnte ein Flieger abgeschossen werden.

Der Regierungspräsident von Düsseldorf meldet: "80 französische Offiziere in preußischer Offiziersuniform in 12 Kraftwagen" wollten bei Walbeck nahe Geldern auf Reichsgebiet vordringen. "Der Versuch misslang", heißt es.

Was die Leser nicht wissen können: All diese Meldungen stimmen nicht. Sie sind unwahr, Ausgeburt der Paranoia, die zu Kriegsbeginn (und später) in Deutschland grassiert.

Zumindest die Meldung von den französischen Soldaten in deutschen Uniformen wäre wohl schon vor 100 Jahren leicht als Ente zu enttarnen gewesen - durch einen Blick in den Atlas. Denn der Ort des Vorfalles liegt nicht etwa an der deutsch-französischen, sondern nahe der Grenze zu den Niederladen. Die vermeintlichen Franzosen hätten folglich zuerst das neutrale Belgien durchqueren müssen und dann die ebenso neutralen Niederlande, um an die Grenze nach Geldern zu kommen. Und das, wohlgemerkt, in deutschen Uniformen.

Die Mär über die französischen Flieger über Franken sollte sich in Berlin mächtig auswirken. Mit Blick auf den kolportierten Vorfall spricht Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg von Notwehr gegen Frankreich, Kaiser Wilhelm II. notierte Frankreich habe den Krieg am 2. August begonnen - einen Krieg, den die Reichsspitze ohnehin wollte (hier mehr dazu).

Offiziell beginnen die Feindseligkeiten erst am Folgetag. Am frühen Abend stellt die Reichsführung der französischen Regierung die Kriegserklärung zu. Paris will zu diesem Zeitpunkt auch den Krieg, der zwei Tage zuvor schon zwischen dem Verbündeten Russland und dem Deutschen Reich begonnen hatte.

Paris weigert sich, Berlin gegenüber eine Neutralitätserklärung abzugeben und mobilisiert seine Armee, aber hält sie einige Kilometer hinter der Grenze zu Deutschland zurück. Man wartet die Kriegserklärung Berlins ab - auch, weil man nicht als Angreifer da stehen will.

Doch davon steht am 3. August noch nichts in den Münchner Neuesten Nachrichten. Dafür druckt die Zeitung allerlei mehr oder minder feierliche Aufrufe ab. Die bayerische Königin Marie Therese wendet sich an die "Frauen und Jungfrauen Bayerns", das heimische Rote Kreuz an die Mediziner, die Burschenschaften an die Studenten: Alle sollen nun helfen, dem Vaterland den Krieg zu gewinnen. Die Frauen in der Heimat, die Ärzte in den Lazaretten, Studenten an der Front.

Von der Ostsee wird berichtet, dass der kleine Kreuzer Augsburg den russischen Kriegshafen Libau bombardiert hat. Im neutralen Schweden wird eine "Schutzmobilmachung" durchgeführt. Die Ausländer in Bayern werden - ausgenommen diejenigen, die nachweislich einen triftigen Grund zum Verweilen haben - aus dem Land gewiesen. Sie hätten das Land über Lindau am Bodensee zu verlassen. Und zwar "binnen 24 Stunden". Das ordnet übrigens nicht mehr eine Zivilbehörde an, sondern "der kommandierende General". Wenige Tage nach Kriegsbeginn hat das Militär die Schalthebel im Reich übernommen.

Besoffen von der Kriegsgeilheit

Diese Machtübernahme scheint in diesen frühen Tagen noch niemanden zu stören. Die Stimmung in München sei "ernst und würdig". Von überall treffen Reservisten in den Münchner Kasernen ein. Sie erzählen, wie sie bei jeder Bahnstation begeistert gefeiert worden seien.

Allerdings beschreibt die Zeitung auch, wie sich der Alltag in München und anderswo drastisch ändert.

  • Im Verkehrsleben sei die "Einziehung" von Pferden und Kraftwagen schon deutlich bemerkbar.
  • In der Rheinprovinz werden die Schulen geschlossen. Die Schüler sollen bei Erntearbeiten helfen (da die bisherigen Arbeitskräfte als Soldaten eingezogen werden).
  • Die Oberpostdirektion fordert die Bürger auf: "Telephoniert nicht ohne Grund!"
  • In Berlin werden 1800 Nottrauungen vollzogen.
  • Die Universität München dürfen ab sofort nur noch deutsche Studenten mit Legitimationskarten betreten.
  • Im fernen Ägypten wird wegen des Krieges eine Lebensmittelknappheit erwartet. Die Mehlpreise steigen im Land am Nil "um drei Mark".

Die Münchner Neuesten Nachrichten erscheinen in einem deutlich reduzierteren Umfang - offenbar ziehen auch einige Redakteure, Drucker und andere Zeitungleute in den Krieg. Die telefonische "Redaktions-Sprechstunde" wird mit Hinweis auf den Krieg auf eine Stunde begrenzt.

Der Ton der Zeitung ist wie in den Vortagen patriotisch. Die Leitartikel ähneln streckenweise Propaganda. Man fordert die Leser auf, "furchtlos, ruhig und fest" zu bleiben, denn dann "werden wir siegen!" Erneut wird Russland vorgeworfen "die Entfachung des Weltkrieges" zu verantworten.

Auf der Titelseite wird ein Werk des bayerischen Heimatschriftstellers Ludwig Thoma abgedruckt. Er scheint genauso wie viele seine Zeitgenossen regelrecht besoffen von der Kriegsgeilheit zu sein, das bayerische Original preist den preußischen Kaiser. Schwülstig dichtet Thoma: "Auf zu den Waffen - auf" und "Komm, was es sei".

Was da die nächsten Tage kommen sollte, zeichnet sich in einer Meldung schon ab. Da werden die Vereinigten Staaten von Amerika von den Regierungen Deutschlands, Großbritanniens und Frankreichs ersucht, ihre jeweiligen konsularischen Aufgaben im Feindesland zu übernehmen.

Warum Großbritannien? Das wird sich der aufmerksame Leser am 3. August 1914 fragen. Denn in der Zeitung steht nichts, was von der britischen Regierung gegen das Reich gerichtet ist. London schweigt in der Tat und wartet.

Denn deutsche Truppen haben das neutrale Belgien überfallen, um einen schnellen Sieg über Frankreich erringen zu können. Großbritannien hat Berlin ultimativ aufgefordert, die Soldaten aus Belgien zurückzuziehen - doch die Reichsführung denkt nicht daran. Und so wird das Vereinigte Königreich als Garant der belgischen Neutralität Deutschland am kommenden Tag den Krieg erklären.

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