Erster Weltkrieg 1914 in der Heimat:"Allgemeines Schluchzen"

Pfarrer Kaspar Wurfbaum

Pfarrer Wurfbaums Tagebucheintrag vom 25. Juli 1914.

(Foto: Archivar des Archivs der Pfarrei)

Nationale Hysterie, Angst vor Fremden und die Trauer um die ersten Toten: Was Pfarrer Kaspar Wurfbaum 1914 über den Beginn des Ersten Weltkrieges in seiner bayerischen Heimat notiert hat.

Zusammengestellt von Joachim Käppner

Pfarrer Kaspar Wurfbaum betreute die katholische Gemeinde Bruck bei Grafing (nahe München) in den Jahren 1907 bis 1940. Wurfbaum verfasste vor 100 Jahren das "Tagebuch eines Daheimgebliebenen", aus dem die SZ Auszüge publiziert. Das folgende Material wurde freundlicherweise von Hans Huber zur Verfügung gestellt, dem heutigen Archivar der Pfarrei Bruck.

25. Juli 1914

An diesem Tage kehrte ich von Kiel aus heim in ununterbrochener Fahrt. Man erfährt von dem Ultimatum Österreichs an Serbien. Der Wortlaut läßt bestimmt erwarten, daß Serbien es nicht erfüllen wird. Schon kommen Berichte, daß Rußland nicht untätig bleiben werde. In Würzburg steigen Herren ein, welche teilweise von Berlin kommen und behaupten, die Stimmungsei allgemein so, daß es "los gehe".

26. Juli

Heute feiern wir Standartenweihe des Burschenvereins. Wetter früh sehr schlecht, dann gegen 8 Uhr aufheiternd. Das Fest verläuft prächtig, jedoch unter dem Eindrucke der Frage: "Was wird in 8 Tagen sein?" Nachmittags kommt die Mitteilung von der Zerstörung des Kaffeehauses Fahrig in München (es wurde von Gästen verwüstet, weil sich die Kapelle weigerte, nationale Lieder zu spielen; SZ).

31. Juli

In München, aber auch in Grafing,werden durch unnötigen Einkauf von Kriegsvorrat die Lebensmittel in ihren Preisen teilweise wuchermäßig emporgetrieben. Einzelne Racheakte des Volkes dafür! Nachmittags halb 3 Uhr fahre ich vom Hauptbahnhof wieder heim.Wie ich in Grafing am Perron das Billet abgebe, sagt mir der Diensttuende: "Jetzt haben wir schon Krieg!" Auf meine Frage, "Gegen wen?" konnte ich keine Antwort erhalten; nur dass die Nachricht amtlich eingelaufen sei. Um 5 Uhr kommt das erste Kreistelegramm: "Den rötlichgelben Umschlag öffnen!" "Kriegszustand erklärt!"

1. August

Es ist nichts Neues zur Kenntnis erhalten. Abends bringt Dentinger an Schlipfhauser Hans einen Eilbrief der Einberufung. Bald darauf kommt der Einberufene; weil er wohl der erste ist aus der Gemeinde, erhält er von verschiedenen Anwesenden Geldgeschenke.

2. August

Beim Amte möchte ich die Ansprache halten. Innerliche Erregung, die auch bei den Anwesenden zu bemerken war und sehr rasch in lautes Schluchzen überging, hinderten mich zu sprechen. Der Inhalt wäre folgender gewesen: "Das Evangelium vom dahinsinkenden Jerusalem ist so recht geeignet für die Zeit eines werdenden Krieges. Erinnerung an die große Zeit vor 44 Jahren! Die Jungen werden es den Alten gleichtun! Nur ein Rat an die Ausziehenden; der Rat eines alten Veteranen: nehmt Euch ein Muttergottesbild mit! -Wir werden für Euch beten und beten für Euer Kriegsglück, und beten, daß recht bald wieder die Sonne des Friedens sich zeigen möge."

Allgemeines Schluchzen! Nach dem Gottesdienste gehe ich zum Wirte,wo die Männer und Burschen noch zahlreich beisammen waren. Ich suche zu trösten mit der Bemerkung, daß Bemühungen zur Aufrechterhaltung des Friedens im Gange sind. Wir gehen zum Wildenholzener Keller, um die Wirtin zu trösten, deren Mann in aller Frühe bereits zum Gestellungsort Landshut, 2.Schweres Reiter-Regiment, abgereist ist; außer diesem ist auch noch fort mein Knecht Josef Baumann, von dem wir uns unter Tränen herzlichst verabschiedeten.

4. August

In Alxing Gottesdienst; zuvor Beicht einzelner Ausrückender. Nachmittags 1 Uhr kam der Distriktstierarzt Dr. Hans Härlein, um mich darüber aufzuklären, wie notwendig die allgemeine Achtsamkeit des Volkes gegen die Ausländer sei, und erzählte mir einiges, was aber nicht bestätigt wurde. - Besonders glaubwürdig wurde im Laufe des Tages von einem mißlungenen Attentat auf den Bahnkörper bei Eisendorf berichtet, stellte sich aber als unwahr heraus. Der heutige Tag war für manche ein bitterer; es trifft das Einrücken bereits Familienväter.

5. August

In der Politik kommen heute die schwerwiegendsten Nachrichten: 1.) England hat den Krieg erklärt; 2.) Italien bleibt neutral. (!!) Dazwischen wird die Kunde von Erfolgen der Deutschen in Rußland bekannt.

Es kam um 9 Uhr der Moosacher Sergeant, welcher als Befehl mitbrachte, dass im Dorfe ein Schlagbaum zu errichten sei und Wachen aufzustellen seien, weil ein französisches Geldauto in der Nähe sei. Der Befehl wurde wohl in allen Gemeinden durchgeführt; gegen abends hieß es, das Auto sei in Glonn gesichtet worden, die Insassen hätten es aber verkleidet verlassen und seien dem Ayinger Forst zu.

Fahrradfahrer festgenommen - er ist "ungenügend legitimiert"

Archiv Bruck Pfarrer Wurfbaum

Bauern vor der Brucker Kirche von Pfarrer Wurfbaum

(Foto: privat)

6. August

Um halb 3 Uhr kam die Botschaft, es sei in Rosenheim ein Flieger gesichtet worden und womöglich die Flugrichtung festzustellen. Von halb 3 Uhr bis 3 Uhr warte ich auf der Altane,wobei ich meinen geladenen Drilling neben mir hatte; irgendeine Beobachtung von einem feindlichen Flugzeug konnte ich nicht machen.

7. August

Um 9 Uhr ist unter äußerst starker Teilnahme die Beerdigung des Hofbauern, von dem bereits zwei Söhne unter den Fahnen stehen. Nach dem Grabliede richte ich wegen der vielfachen Sorgen der Frauen folgende Ansprache an die Versammelten:

"Noch ein Wort an die Frauen! Es ist wohl begreiflich, daß hartes Herzeleid Euch durchzittert; aber wühlt nicht immer in den gleichen, schaurigen Gedanken; laßt Euch auch etwas anderes sagen! Habt Ihr denn volle Garantie, daß nicht den Mann auch in der Heimat ein Unglück, eine Krankheit treffen könnte? Und glaubt Ihr dann, daß Ihr Euren Männern einen großen Gefällen hättet erwiesen, -wenn Ihr ihn zurückhalten hättet können,-wenn zwar die anderen alle zum Kampf ausgezogen wären, nur der Deine nicht?! Und wenn nach glücklichem Kriege die Heimkehrenden von der Bevölkerung in dankerfülltem Jubel begrüßt worden wären,und der Deine wäre nicht auch unter diesen Reihen! Ists aber wirklich, dass er nicht wiederkommt: Bei aller Wehmut wird doch ein berechtigter Stolz in Dir sein bis zur letzten Stunde und Deine Kinder werden es bis in ihr letztes Alter mit demselben Stolze erzählen: "Unser Vater ist fürs Vaterland auf dem Felde der Ehre gefallen!"

Der Lehner von Pullenhofen findet in einem Weizenfelde einen Radfahrer, welcher ungenügend legitimiert ist. Der Lehner zwingt den Fremden, welcher bayerischen Dialekt hat, mit nach Pullenhofen zu gehen; von dort wird er unter starker Bewachung nach Grafing transportiert.

9. August

Gestern hatte ich wieder den festen Entschluß gefaßt, mich als Feld-Geistlicher zu melden. Wie ich aber heute den Besuch bei den männerlosen Frauen mache,und den Eindruck der Trostbedürftigkeit solcher gewinnen mußte, habe ich mir gesagt, daß schließlich doch mein Platz zuhause ist und da auch reichlich Gelegenheit habe, Kriegswunden zuheilen. Wenn nur diese Arbeit nicht gar zu stark anschwillt! Gegen 9 Uhr werden sich die zahlreichen Anwesenden darüber einig, dem "Roten Kreuze" die Beihilfe der Gemeinde zu geben und insbesonders für Beschaffung von Socken sorgen zu wollen.

Bei Besprechung dieser Angelegenheit machte sich ein Auswärtiger durch Lachen und unpassende Reden bemerkbar. Ich habe ihn wiederholt in aller Ruhe ersucht, dies bleiben zu lassen, als mir der Wirt sagte, daß dieser Fremde der junge S. von F. sei. Da mir bekannt war, daß derselbe infolge eines Böllerschusses teilweise geistesgestört ist, bemühte ich mich, den Anwesenden durch Zeichen dies begreiflich zu machen. Allein dies ist anscheinend nicht gelungen, denn in aufwallendem Patriotismus wurden die einfältigen und beleidigenden Worte schnell mit Ohrfeigen und Fliegenlassen beantwortet. Es kostete mich viele Mühe, die Leute vor Weiterem zurückzuhalten.

20. August

Ein aufregendes Verbrechen geschah fast vormeinen Augen: der "Petermiz" hat eine, offenbar die dümmste von Gustl's Tauben umgebracht; das Opfer konnte dem blutrünstigen Kater wieder abgenommen, aber nicht mehr lebendig gemacht werden! Abends ist beim Wirt zu erfahren, daß der Zehetmaier und der Schneider von Pullenhofen fort müssen. Zehetmaier ist beim Wirt anwesend, voll Humor; freilich gesteht er mir, daß es ihm innerlich wund ist wegen der Familie; aber ankennen will er es sich nicht lassen.

"Russen vermöbelt", "Franzosen verklopft"

Pfarrer Kaspar Wurfbaum Erster Weltkrieg

Lokaler Chronist der Ereignisse von 1914: Pfarrer Kaspar Wurfbaum.

(Foto: Archivar des Archivs der Pfarrei)

23. August

Gegen halb 11 Uhr meldet sich Schmidle mit einem Pack Siegesnachrichten. Die Österreicher haben wiederholt die Russen vermöbelt, die Franzosen wollten im Oberelsaß vordringen und wurden verklopft, die Deutschen haben russische Angriffe zurückgeworfen. Da hierbei 8000 Gefangene gemacht und vier Geschütze erobert wurden, wird die Fahne aufgebracht.

Beim Läuten wegen des Todes des Papstes Pius,welches gestern, heute und morgen zu geschehen hat, zerbricht der Glockenhebel. Abends beim Wirte in Bruck werden natürlich Kriegsdiskurse geführt, die Überschwemmung Belforts und das Einmarschieren in Paris in nahe Aussicht stellt, aber auch fleißig zum Roten Kreuz beigesteuert.

3. September

Die großen Krupp'schen "Brummer" und ihre Geschoße gaben viel Gesprächsstoff: mit jedem Schusse fliegt der Wert eines Bauernhofes aus den 42-Zentimeterröhren.

6. September

Es ist schon da gewesen, daß einzelne Trupp gegen verschanzte Franzosen vorgestürmt sind in Hemdärmel, nachdem sie zuvor Gewehr, Tornister und Rock weggeworfen. Bei einer solch blutigen Arbeit habe ein Münchner 17 Franzosen die Gurgel abgeschnitten, beim 18. sei er verwundet worden.

24. September

Wir warten in Geduld; da wird uns gesagt, daß im Lokale ein Verwundeter sei, der neunmal getroffen wurde.Wir laden durch die Kellnerin den Mann ein, bei uns Platz zu nehmen. Seine rechte Hand ist stark verbunden, vier Schüsse sind nebeneinander durch die Mittelhand gedrungen, vier andere sind in den Oberschenkel, ein Streifschuß am Kopf bedrohte das Leben; der Verwundete war beim 15. Regiment im 2. Bataillon, welches vor ein französisches Maschinengewehr geriet. Der Tapfere kann noch wenig essen, eine Maß Bier und Zigarren schmecken ihm.

1. Oktober

Prächtiges Herbstwetter.Gottesdienst in Bruck. Hernach soll eine längst gemachte Zusage eingelös twerden. Der Gustl, der Wirts Martl und der Käser Simon fahren mit mir heute nach München zur Besichtigung des Tierparkes. Um 11 Uhr lande ich mit meiner Gefolgschaft im Hofbräuhause, wo unsere vier Mägen als Mittagsmahl neben einer Maß und etlichen Semmeln, 36 Schweinswürstln mit Kraut aufnahmen. Nach dem frugalen Mahle fuhren wir zu den herrlichen Anlagen des Tierparkes. Das meiste Gefallen erregten bei den Buben nicht der Elephant oder die Löwen oder die Eisbären, sondern die Papageien mit ihren bunten Farben und der Goldfasan. In gutem Marsche gelangten wir abends wieder zu Hause an, wohin keine neue Nachricht mehr dringt.

18. Oktober

Nach dem Verkünden habe ich auf Ersuchen des Bürgermeisters bekannt zu geben, daß Familien gesucht werden, welche Kinder von armen Einberufenen aufnehmen; hiezu ergeht die Bemerkung, daß, wennauch diese Bitte eine sehr weitgehende ist, diejenigen, welche mithelfen, es erfahren werden: Wer eines dieser Kleinen aufnimmt, nimmt mich auf.

1. November

Der Postbote hat endlich wieder eine Karte vom Sepp; neun Tage, so erzählt er, seien sie an einem Platze gelegen, es gehe nicht mehr recht vorwärts. Auch der Meßner hat eine Karte geschickt, auf deren Rückseite die Photographien seiner Kriegskamera den zu sehen sind. Der Baumeister, welcher in Moosach war, bringt die Nachricht, es werde dort erzählt, daß ein Moosacher Krieger heimgeschrieben habe, er habe den Schnurrer von Taglaching fallen sehen.

3. November

Totenfeierlichkeiten in Bruck. Hernach kommt die Schnurrerin von Taglaching und bringt mit Tränen in den Augen die Karte von der Frau Rauschmeier in Moosach, auf welcher mitgeteilt ist, daß ihr Mann gefallen sei; sie ersucht mich, Nachfrage zu halten. Das gleiche will auch die Näherin Hedwig wegen ihres Bruders. Ich verspreche beiden, morgen in München mich zu erkundigen. Abends wird auf dem Keller außer der übrigen, wie immer gemütlichen und anregenden Unterhaltung, auch die Feier des Veteranen- Jahrtages besprochen. Hierbei wird zugestimmt, daß die Feier ohne Musik abgehalten werden soll, die nachmittägige jedoch nicht ausfallen soll.

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