Erster Weltkrieg in Belgien:Deutschlands folgenschwerer Überfall

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Westfront 1914: Deutsche Soldaten durchsuchen belgische Bauern nach versteckten Waffen. Die Furcht, von irregulären Kämpfern - sogenannten Franc-tireur - bekämpft zu werden, führte zu teils drakonischen Sicherheitsvorkehrungen und Maßnahmen gegen die Bevölkerung insbesondere in den ersten beiden Kriegsjahren. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

1914 marschieren die Deutschen ins neutrale Belgien ein, um Frankreich zu besiegen - für Großbritannien der Grund, dem Kaiserreich den Krieg zu erklären. Die Deutschen verüben Massaker an belgischen Zivilisten, die Front frisst sich durchs Land.

Der belgische Zöllner bei Gemmenich im deutsch-niederländisch-belgischen Dreiländereck war völlig verblüfft: "Das ist hier Belgien!" rief er dem Infanterieregiment aus dem benachbarten Aachen hinterher, das am Morgen des 4. August 1914 an ihm vorbeimarschierte. Er glaubte an einen Irrtum: Belgien war ja ein neutraler Staat. Deutschland war gemeinsam mit Österreich, Großbritannien, Frankreich und Russland seit 1830 eine Garantiemacht für Belgiens Neutralität.

Es war kein Irrtum: Mit dem Rechtsbruch des deutschen Nachbarn begann für Belgien "Der große Krieg" (La Grande Guerre), dessen Ende am 11. November 1918 noch heute nationaler Gedenktag des Königreichs ist. Im Vergleich zu Leid und Trauma des Ersten Weltkriegs verblasst aus belgischer Sicht sogar der zweite große Waffengang des 20. Jahrhunderts. Und für die Deutschen wurde der Überfall wesentlich folgenschwerer, als es die siegesgewissen Generäle sich vorstellten. Großbritannien als Garantiemacht Belgiens nahm den deutschen Überfall zum Anlass, in den Krieg einzutreten.

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Der Plan des deutschen Generalstabs war einfach, kühn und wahnsinnig. Blitzartig wollte man erst Frankreich besiegen, um dann mit denselben Truppen auch noch Russland zu besetzen. Da Frankreich an seiner Ostgrenze einen deutschen Angriff erwartete, wollten des Kaisers Generäle von Norden her in Richtung Paris vorstoßen - über das Territorium Belgiens. "Meine Herren, das widerspricht den Geboten des Völkerrechts", räumte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg am Tag des Einmarschs vor dem Reichstag in Berlin ein. Aber: "Wir sind jetzt in der Notwehr. Und Not kennt kein Gebot."

Großer Zeitdruck, große Brutalität

Angeblich bereitete Frankreich seinerseits den Marsch durch Belgien vor, um in Nordwestdeutschland einzufallen, so stand es in dem Ultimatum der Deutschen an die belgische Regierung.

Was die kaiserliche Regierung mit Frankreich und Belgien wirklich plante, verriet Reichskanzler Bethmann Hollweg wenige Tage vor Kriegsbeginn in Form eines Angebots, mit dem er Londons Neutralität sichern wollte: Nach dem gewonnenen Krieg Frankreichs Souveränität einzuschränken und Belgien zu einem Satellitenstaat zu degradieren ( in diesem Text findet sich mehr dazu).

Der belgische König Albert I. lehnte das Ultimatum ab - zur gespielten Überraschung Berlins, sogar von "Enttäuschung" war die Rede.

In Wirklichkeit war die Invasion längst geplant. Sofort ließen Kaiser Wilhelm II. und seine Feldherren das kaiserliche Heer das kleine Nachbarland überfallen. Doch die Belgier leisteten erbitterten Widerstand.

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Als erstes in Lüttich, der strategisch wichtigen Industriemetropole, in deren Umgebung zwölf Festungen den Vormarsch der Deutschen in Richtung Frankreich stoppten. Bis zum 15. August, als das wichtige Fort Loncin unter dem Beschuss einer 42-Zentimeter-Kanone ("Dicke Bertha") zusammenbrach und 350 Menschen unter sich begrub. Die starke Gegenwehr der belgischen Soldaten drohte jedoch den gesamten deutschen Plan für die Besetzung Frankreichs und den folgenden Einmarsch in Russland zunichte zu machen.

Unter akutem Zeitdruck gingen die Deutschen mit großer Brutalität vor. In jenem August 1914 wurden mehr als 5000 Zivilisten ermordet. Eine Reihe von Orten wie Battice, Herve oder Visé wurde erst nach der Eroberung in Schutt und Asche gelegt. In Dinant wurden 674 Menschen - Kinder und Greise eingeschlossen - bei Massenexekutionen getötet.

Die Deutschen wiesen Berichte, sie wüteten "wie die Hunnen", als Gräuelpropaganda zurück: Sie seien von Freischärlern ("Franc-tireurs", hier die Vorgeschichte) angegriffen worden. Unter den Deutschen habe eine panische Angst vor Heckenschützen geherrscht, meinen Historiker - ein Trauma des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71.

Zu den bekanntesten Gräueln der Invasoren 1914 in Belgien gehört das "Massaker von Löwen". In der alten Universitätsstadt brachten die Deutschen Ende August mehr als 200 Menschen um und verwüsteten Teile - auch die Bibliothek zündeten die Soldaten an.

Im Herbst 1914 war der größte Teil des Landes besetzt - nur an der Yser unweit der Kanalküste behielten die belgischen Truppen mit König Albert I. einen kleinen Rest unter ihrer Kontrolle. Der König weigerte sich aber, sich den Alliierten anzuschließen. Während der Besatzungszeit herrschte Hungersnot, weil das Land blockiert war und die Deutschen die Wirtschaft bestmöglich auszubeuten suchten. 500 000 Belgier flohen, vor allem in die Niederlande.

Der Amerikaner Herbert Hoover, später US-Präsident, gründete die Commission for Relief in Belgium (CRB), die mit Lebensmittelhilfen wesentlich zum Überleben der Zivilbevölkerung beitrug.

In Westflandern fraß sich die Front fest

Der Krieg habe das Selbstbild Belgiens radikal verändert, meint die Historikerin Laurence Van Ypersele von der Universität Löwen. Man habe sich nach Kriegsende von den Alliierten verhöhnt gefühlt: Den Belgiern wurde vorgeworfen, wegen der Neutralität seien "nur" etwa 50 000 Soldaten gefallen. Heldentum und Martyrium seien daher die großen nationalen Werte geworden - nach wie vor werde in Belgien ja nicht nur der Soldaten gedacht, sondern gleichberechtigt auch der Erschossenen und Deportierten.

Der deutsche Vormarsch kam zum Stehen, die Front fraß sich in Westflandern fest. Mehr als eine halbe Million Soldaten kamen in der Region in den vier Kriegsjahren um. In Ypern schob sich die Linie nur vier Kilometer hin und her - und das jahrelang. Erstmals wurde massiv Gas als Waffe eingesetzt.

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Bald nach Kriegsbeginn 1914 erstarrte die Westfront. Von der Kanalküste bis zur Schweizer Grenze gruben sich die Deutschen ein, ebenso Franzosen, Briten und deren Verbündete auf der anderen Seite. Was folgte, war ein Novum: Der Einsatz von Giftgas, Panzern und Artillerie tötete Hunderttausende.

Der Blutzoll des sinnlosen Grabenkrieges war immens: Bei Ypern liegen mehr als 130 000 gefallene Deutsche begraben und etwa 200 000 Soldaten allein des Commonwealth, des Staatenbundes unter Führung Großbritanniens. Noch heute finden flämische Bauern beim Pflügen menschliche Überreste, entstehen auf den gewaltigen Soldatenfriedhöfen neue Gräber.

Nach dem Krieg hätten die Belgier sehr bald "das Gefühl (bekommen), den Frieden verloren zu haben, von den Alliierten verlassen zu sein, sogar verachtet zu werden", so Historikerin Van Ypersele. Dass man im Versailler Vertrag das Gebiet von Eupen-Malmedy (heute der deutschsprachige Teil Belgiens) zugesprochen bekam, war kein Grund zur Freude. Man verstand sich als Märtyrerland.

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Gastbeitrag von John C. G. Röhl
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