Süddeutsche Zeitung

Erster Weltkrieg in Frankreich:"An der leichenfressenden Somme"

Im November 1916 endete das Gemetzel an der Somme. Die Schlacht war blutiger als Verdun, endete ohne Sieger - und wirkte doch mächtig nach.

Von Oliver Das Gupta

Zwischen starken Regenschauern scheint die spätherbstliche Sonne mild an diesem Freitag über Thiepval. Bei dem nordfranzösischen Dorf haben sich etwa 2000 Menschen zu einem besonderen Gedenkgottesdienst versammelt. Es geht um den Ersten Weltkrieg und die Soldaten des britischen Expeditionskorps, die der Weltenbrand in diesem Landstrich am Flüsschen Somme einst fraß und der am 18. November vor 100 Jahren endlich endete.

141 Tage tobte die Schlacht, die für die Briten von zentraler Bedeutung ist, weil sie so vielen eigenen Männern das Leben kostete und selbst initiiert war. Zahlreiche Veranstaltungen erinnerten in den letzten Monaten an den Mordsommer an der Somme, das Centenariumgedenken schließt mit dem Gottesdienst bei Thiepval ab. Hier, wo die Schlacht besonders schlimm tobte, erinnert ein kolossaler Torbogen an mehr als 70 000 Soldaten aus Großbritannien, Australien und anderen Commonwealth-Staaten, die als vermisst gelten oder deren zerfetzte Körper nicht mehr identifiziert werden konnten.

Heute werden von Angehörigen der britischen Streitkräfte Kränze niedergelegt, ein Veteran des Zweiten Weltkrieges ist ebenso dabei wie ein Dudelsackspieler im Militär-Kilt. Der Geistliche spricht weihevoll vom "nachhaltigen Vermächtnis" der Soldaten von damals. Und er macht deutlich, was er von dem Gemetzel hält: Die Opfer zeugen vom "Ausmaß und der Sinnlosigkeit des modernen industrialisierten Krieges".

Denn das Ausmaß des Sterbens an der Somme 1916 war immens und so noch nie da gewesen: Die Gesamtzahl der Toten und Verwundeten liegt bei deutlich mehr als einer Million. Niemand weiß genau, wie viele Menschen hier von Maschinengewehr-Salven durchsiebt und durch Granaten zerfetzt wurden oder in den Schützengräben erstickten. Klar ist: Nirgends an der Westfront starben in so kurzer Zeit so viele Soldaten wie an der Somme, auch nicht im 200 Kilometer entfernten Verdun.

Ein Sieg, der "leichter als Teetrinken" sein sollte

Was für Franzosen und Deutsche die Schlacht um das Städtchen an der Maas bedeutet, das schwingt für die Briten und die Länder des Commonwealth beim Namen "Battle of the Somme" mit. Eine Hölle des Krieges, massenhaftes Sterben, kalkuliert von Generälen. Immerhin: Der gigantische Verlust an Menschenleben in Verdun und an der Somme bewirkte später ein Umdenken in der Kriegsführung.

Der Befehlshaber, der die Schlacht an der Somme initiierte, war der Brite Douglas Haig. Mit der Offensive wollte der Feldmarschall den französischen Bündnispartner entlasten, der bei Verdun den deutschen Angriffen nur mühsam standhielt. Doch offensichtlich strebte er noch etwas anderes an: Haig wollte den festgefressenen Stellungskrieg beenden, "die Front zerbrechen", wie der Historiker Jörg Friedrich schreibt.

Haig, der von Zeitgenossen als stur, altmodisch und unehrlich beschrieben wird, war den deutschen (und österreichischen) Strategen nicht unähnlich: Die Feldherren glaubten pathetisch an die eigene Überlegenheit. Haig war durch die Kavallerie geprägt - für ihn galt die Mannhaftigkeit, nicht der Maschinenkrieg.

Am 1. Juli 1916 schickte der oberste Soldat seiner Majestät, King George V, voller naiver Zuversicht seine Soldaten ins Verderben. "Der Wetterbericht für Morgen ist günstig", notierte Haig am Vorabend des Angriffs in seinem Tagebuch. "Die Männer sind in ausgezeichneter Stimmung. Noch nie ist der Stacheldraht so gründlich gekappt worden, noch nie war die Artillerievorbereitung so gründlich." Der Oberbefehlshaber verließ sich auf Gott und die mehr als 1,7 Millionen Granaten, die in den vergangenen Tagen auf die deutschen Linien niedergegangen waren. "Mit dem Spazierstock" sollten die Truppen das Niemandsland passieren, die Einnahme der feindlichen Stellungen werde "leichter als Teetrinken", scherzten die Stabsoffiziere.

So stürmten am Morgen des 1. Juli 1916 mehr als 100 000 von Haigs Soldaten auf einer Frontlänge von 26 Kilometern aus ihren Schützengräben - meist junge Freiwillige für Englands neues Millionenheer, kurz ausgebildet und nach Dörfern und Straßenzügen in "Pals battalions" - "Kumpel-Bataillone" - zusammengefasst.

Männer, die noch vor Kurzem gemeinsam in der Buchhaltung gearbeitet oder im selben Cricketteam gespielt hatten, rückten nun in dichten Reihen gegen die Reste der deutschen Stacheldrahtverhaue vor. Statt der versprochenen Teestunde erwartete sie im flachen, deckungslosen Gelände eine Orgie des Todes - und im Anschluss ein monatelanges Massensterben.

Die Maschinengewehre ratterten, bis das Kühlwasser kochte

Die meisten Deutschen hatten in gut befestigten Bunkern tief unter der Erde den Granathagel überlebt. Sobald der Beschuss einmal abebbte, kamen sie mit ihren MGs an die Oberfläche und begannen zu feuern. Mit 600 Schuss pro Minute nahmen sie die ungeschützten Engländer ins Visier, bis das Kühlwasser in den Waffen kochte.

Selbst ungeübtere Schützen konnten unter solchen Idealbedingungen maschineller Auslöschung binnen einer halben Stunde dutzende Feinde verwunden oder töten. "Es war schlimmer als die Hölle", erinnerte sich Soldat Harold Beard von den Lancaster Fusiliers, der den Horror beim Sturm auf Thiepval im Zentrum der Sommefront überlebte. Bald lagen die Leichen in Schichten übereinander.

Am Ende des 1. Juli 1916 waren neben 8000 Deutschen mehr als 19000 Briten tot und 37000 verletzt. Zwischen 7.30 Uhr morgens und der Abenddämmerung hatte Haig die Hälfte seiner Infanterie verloren - und das an einem relativ kurzen Frontabschnitt. Auf jeden gefallenen Deutschen kamen sieben tote oder verwundete Briten.

Das Datum wurde zum nationalen Trauma, zum schwärzesten Tag der britischen Militärgeschichte und die Somme-Schlacht zum Inbegriff des Ersten Weltkriegs. Seine sinnlosen Massenangriffe durch Kraterwüsten, mitten hinein in MG-Salven, Giftgaswolken und das Grabengemetzel mit Bajonett und Spaten brachten keine nennenswerten Geländegewinne.

Auf die Soldaten des deutschen Kaisers machte das Inferno einen ähnlichen Eindruck. "An der leichenfressenden Somme", formulierte der deutsche Arbeiterdichter Gerrit Engelke, der später - kurz vor dem Waffenstillstand - seinen Kriegsverletzungen erliegen sollte.

Trommelfeuer, Giftgas und dann die Infanterie aus den Schützengräben vorrücken lassen - viel mehr fiel englischen (wie deutschen Strategen bei Verdun) auch in den darauffolgenden Monaten nicht ein. Ein erster Einsatz der neuen Panzerwaffe blieb wirkungsarm wegen technischer Mängel. Im Slang seiner Soldaten firmierte Feldmarschall Haig bald nur noch als "der Metzger".

Trotz der immens hohen Opferzahlen versuchten die britischen Militärs, die Gesamtlage zu beschönigen. Haig gab mitunter falsche Zahlen an die Regierung in London weiter, so berichtet es Winston Churchill später. Und damals wurde ein bemerkenswert umfangreicher Dokumentarfilm gedreht, der in der Heimat suggerieren sollte: Es ist schlimm - aber den Krauts (den Deutschen) geht es noch schlechter.

Passend zu solcher Propaganda kamen noch Heldengeschichten in Umlauf, wie die des verwegenen Offiziers namens Percy Herbert Cherry. Der australische Captain stand im August 1916 einem Deutschen gegenüber. Die beiden schossen gleichzeitig aufeinander. Ein Projektil streifte den Helm Cherrys, der Deutsche wurde tödlich getroffen. Der Sterbende streckte Cherry Papier entgegen.

In tadellosem Englisch, so die Legende, bat er den Gegner, dafür zu sorgen, dass die Briefe seine Angehörigen erreichen. "And so it ends", habe der Deutsche dann angeblich noch gesagt. Für Cherry kam das Ende ein halbes Jahr später in Form einer einer deutschen Granate.

Am 18. November 1916 stoppte Haig das große Morden - nach mehr als viereinhalb Monaten. Selbst in der zynischen Wahrnehmung von Generalstabsoffizieren war das Missverhältnis zwischen Geländegewinnen und gefallenen Soldaten immens. Die Front war nur wenige Kilometer eingedrückt. Mehr als 450 000 Soldaten des Empire, 200 000 Franzosen und mehr als 460 000 Deutsche waren tot oder verwundet.

Trotzdem halten manche britische Militärhistoriker die Somme-Schlacht für einen Faktor, der sich auf den Kriegsausgang auswirkte. Der Abnutzungskampf habe die kaiserliche Armee stark erschöpft und die Alliierten so dem Sieg von 1918 näher gebracht.

Doch es gab noch andere Folgen, die man in London ganz und gar nicht gerne sah. Nach dem Somme-Debakel stürzte in London die Regierung - das Desaster wurde Premierminister Herbert Henry Asquith angelastet. Die englische Politik, die den Weltkrieg 1914 noch verhindern wollte, ließ Haig weiter gewähren - ein Austausch des beliebten Armeechefs hätte ja wie Schwäche gewirkt.

Hitler und der Schlamm an der Somme

Doch auch in der eigenen Truppe machten sich Auswirkungen des Massensterbens bemerkbar: Bei Thiepval, dem Dorf, wo nun die Gedenkfeier zum 100. Jahrestag stattgefunden hat, war der Blutzoll auf Seiten der eingesetzten irischen Einheiten besonders hoch.

Irland war 1916 noch Teil des Vereinigten Königreichs, eine Quasi-Kolonie, in der es rumorte. Kurz vor der Somme-Schlacht war in Dublin der Osteraufstand zusammengeschossen worden (hier mehr dazu). Gerade vor diesem Hintergrund entfaltete dem Historiker Jörn Leonhard zufolge das massenhafte Sterben von Iren an der Somme eine "enorme symbolische Wirkung". Wenige Jahre später wurde Irland unabhängig, nur der Nordosten der Insel verblieb bei der Krone.

Douglas Haig, der britische Befehlshaber und Vater der Somme-Schlacht, behielt seinen Posten. Er änderte seine Kriegsführung nicht wesentlich und ließ nach wie vor zigtausende eigene Männer ins MG-Feuer der Deutschen laufen. 1919 wurde der schnauzbärtige Feldmarschall geadelt und sah sich gleichzeitig wachsender Kritik in Großbritannien ausgesetzt. "Das suggestive Bild der 'lions led by donkeys' kontrastierte die Tapferkeit der eigenen Soldaten mit der Unfähigkeit der höheren Offiziere", meinte der inzwischen verstorbene britische Historiker und Politiker Alan Clark.

Auf deutscher Seite wurden die Angriffe an der Somme abgewehrt. Allerdings klappte das nur unter großen Verlusten und weil Reserven mobilisiert werden konnten, die an anderer Stelle fehlten. "Wucht und Schwerpunkt" der Somme-Offensive seien vom deutschen Generalstabschef Erich von Falkenhayn falsch eingeschätzt worden, schreibt der Historiker Olaf Jessen. Falkenhayn glaubte tatsächlich, dass Franzosen und Briten so sehr zermürbt waren, dass ein Sieg bevorstand - eine Einschätzung, die sein Gegenpart Haig spiegelverkehrt teilte.

Falkenhayn wurde Mitte 1916 abgesetzt. Stattdessen setzte Kaiser Wilhelm II. auf die an der Ostfront relativ erfolgreichen Spitzenmilitärs Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff. Das Gespann agierte mitunter diktatorengleich bis zum Ende - und schob die Schuld an der Niederlage dann demokratischen Politikern zu.

Ein ausländischer Legionär, der als Meldegänger in der bayerischen Armee Dienst tat, benutzte die Teilnahme an der Somme-Schlacht später für sein Image. Der Österreicher Adolf Hitler war mit seinem Reserve-Infanterie-Regiment 16 erst Ende September am betreffenden Abschnitt eingesetzt worden. Wenige Tage später traf ihn ein Granatsplitter im Oberschenkel, was schmerzhaft und sein Glück war: Der Gefreite Hitler wurde von der Front in die Beelitzer Heilstätten bei Berlin gebracht.

"Welcher Wandel!", schrieb er später in seinem Pamphlet "Mein Kampf" über die Klinik: "Vom Schlamm der Somme-Schlacht in die weißen Betten dieses Wunderbaus!" Das war von dem Österreicher wohl besonders dick aufgetragen, um sich als harten Kerl aus dem Schützengraben darzustellen. Doch der spätere Diktator wurde nicht an der Frontlinie, sondern mehrere Kilometer dahinter im Regimentsquartier verwundet. Den Schlamm an der Somme hat Hitler wohl nie gesehen.

Mit Material von KNA.

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