Erster deutscher Kanzler:"Für die Franzosen war Bismarck ein Hassobjekt"

Schürzenjäger, Landwirt, Reichsgründer: Seit seiner Ernennung zum preußischen Regierungschef vor 150 Jahren prägte Otto von Bismarck Deutschland - und das nicht nur im positiven Sinn. Historiker Rainer F. Schmidt erklärt, wie der "Eiserne Kanzler" von den Nazis instrumentalisiert wurde und welche Rolle Frauen in Bismarcks Leben gespielt haben.

Matthias Kohlmaier

Vor 150 Jahren, im September 1862, hat König Wilhelm I. den Diplomaten Otto von Bismarck zum preußischen Ministerpräsidenten und Außenminister ernannt. Der erzkonservative Monarchist sollte Deutschland fast 30 Jahre lang prägen, ab 1871 als erster Reichskanzler des Deutschen Kaiserreiches. Nationalist war er, der "Eiserne Kanzler", aber kein Rassist - trotzdem wurde er noch mehr als drei Jahrzehnte nach seinem Tod von den Nazis für ihre Propaganda instrumentalisiert. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem "alten Bismarck" fand in der Wissenschaft erst nach dem Zweiten Weltkrieg statt.

Otto von Bismarck, 1894

Konservativ, nationalistisch, antidemokratisch: Otto von Bismarck (1815 - 1898), Deutschlands erster Reichskanzler.

(Foto: Scherl / SZ Photo)

Professor Rainer F. Schmidt lehrt an der Universität Würzburg Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte. Seit mehr als 30 Jahren forscht er intensiv zu Otto von Bismarck.

SZ.de: Herr Schmidt, hat Otto von Bismarcks Politik dem Nazi-Regime den Weg geebnet?

Rainer F. Schmidt: Vor allem der Führerkult, den Bismarcks historische Leistungen und seine Figur erweckten, hat natürlich Schneisen geschlagen in der deutschen Geschichte. Die Kontinuitäten sind meiner Ansicht nach aber konstruiert. Bismarck stand zwar für den Sieg der Königsherrschaft über die Parlamentsherrschaft - aber es gab in der Geschichte bis zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler 1933 noch viele andere entscheidende Weichenstellungen und Wendepunkte. Die Maximen Bismarcks - sich mit dem Erreichten zu bescheiden, den Zweifrontenkrieg unter allen Umständen zu vermeiden - wurden buchstäblich mit seinem Abgang zu Grabe getragen. Mit der sich ab Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend entfaltenden biologistisch-rassistischen Politik, die im Nationalsozialismus aufgipfelte, hatte Bismarck nichts zu tun.

Die Nazis haben Bismarck später trotzdem für ihre Zwecke instrumentalisiert.

Dieser Bismarck-Kult beginnt im Grunde bereits mit seinem Tod im Juli 1898. Bismarck wurde seither im Bewusstsein der Deutschen zum nationalen Mythos, zum "Eisernen Kanzler" stilisiert. Straßen, Schiffe, Orte und nicht zuletzt die berühmten Heringe werden nach ihm benannt. Darin drückte sich die Sehnsucht nach nationaler Größe und diese Führererwartung aus - und genau hieran knüpften die Nationalsozialisten an. Auf einer sehr bekannten Propagandapostkarte sind nebeneinander Friedrich der Große, Otto von Bismarck, Paul von Hindenburg und Hitler abgedruckt. Unter den Köpfen heißt es: "Was der König eroberte, der Fürst formte, der Feldmarschall verteidigte, rettete und einigte der Soldat."

Nach Bismarcks Entlassung als Reichskanzler 1890 lautete der Tenor unter den Zeitgenossen oftmals: Wir sind froh, den Alten los zu sein! Wie ist das mit der angesprochenen Heroisierung zusammenzubringen?

Das hängt mit den veränderten politischen Rahmenbedingungen zusammen. Bei Bismarcks Ausscheiden aus dem Amt atmen alle auf - einschließlich des neuen jungen Kaisers Wilhelm II. -, dass der Alte mit seiner Politik der Stagnation, der Bescheidenheit endlich weg war. Nun konnte man endlich das Kraftgefühl, dass die wilhelminische Epoche erfüllte, in praktische Politik umsetzen.

Wie ist in diesem Zusammenhang die bekannte Karikatur "Der Lotse geht von Bord" zu sehen?

Das ist eine englische Karikatur und die Engländer sahen das auch so, doch nicht die Deutschen und schon gar nicht die Franzosen. Für die Franzosen war und blieb Bismarck ein Hassobjekt. Aber die Engländer erkannten, dass das deutsche Staatsschiff seinen Kapitän verloren hatte, der bisher eine berechenbare Politik gemacht hatte. Nun musste man sich mit dem äußerst sprunghaften und unkalkulierbaren Wilhelm II. und mit dessen imperialem Gestus auseinandersetzen.

Wilhelm II. hat Bismarck auch aus persönlicher Antipathie 1890 aus dem Amt des Reichskanzlers entlassen. Warum standen die beiden einander so feindsinnig gegenüber?

Das ist zunächst ein Konflikt der Generationen. Wilhelm bestieg den Thron im Alter von 29 Jahren, Bismarck war zu dieser Zeit bereits 73 Jahre alt. Es prallten hier also zwei Figuren mit ganz unterschiedlichen Wertvorstellungen und ganz anderer politischer Sozialisation aufeinander. Dieses säbelrasselnde Sendungsbewusstsein, mit dem sich Wilhelm umgab - damit konnte Bismarck überhaupt nichts anfangen. Trotzdem hielt sich der alte Reichskanzler lange für unentbehrlich. Schon unmittelbar nach seiner Thronbesteigung soll der Kaiser im Kreise seiner Günstlinge jedoch bereits gesagt haben: "Sechs Monate lasse ich den Alten noch verschnaufen und dann regiere ich selbst."

"Bismarck galt als wilder Schürzenjäger"

Konfliktpotenzial bot sicherlich auch Bismarcks Herkunft: Sein Vater entstammte einem alten Adelsgeschlecht, die Mutter war eine Bürgerliche. War der Weg Bismarcks in die Politik überhaupt abzusehen?

Bismarck schwankte in seiner Jugend immer zwischen dem Wunsch seiner Mutter nach einer gehobenen Beamtenlaufbahn im preußischen Staat und dem, was der Vater repräsentierte, also die Beibehaltung des Lebens als Landwirt. Er studierte dann zwar zuerst Jura, als Regierungsreferendar hielt er es im langweiligen Beamtenleben aber nicht lange aus. Schon als Student hatte er diverse Liebschaften und galt auch während seiner Referendarszeit als wilder Schürzenjäger, blieb monatelang dem Dienst fern und häufte immense Spielschulden an. 1839 zog er sich dann, frustriert vom Staatsdienst, auf eines der Güter seiner Eltern zurück und führte dort das Leben eines Landwirts.

Befriedigte ihn die Zeit als Landwirt mehr als zuvor das Beamtendasein?

Überhaupt nicht. Das war eine kurzfristig willkommene Notlösung, hat aber seine Sinnkrise keineswegs gelindert. Er hat dort gut gewirtschaftet und konnte die angehäuften Spielschulden abbezahlen. Auch galt er innerhalb kürzester Zeit in der Umgebung als "toller Junker", der seine Gäste in wilden Saufgelagen unter den Tisch trank, sich monatelang auf Auslandsreisen aufhielt und sich nebenbei in einsamen Nächten durch die Weltliteratur las.

Wie fand er aus dieser Sinnkrise heraus?

Da gibt es zwei Faktoren: Einerseits den Kreis pommerscher Pietisten um seinen Jugendfreund Moritz von Blanckenburg und dessen Verlobte Marie von Thadden. Sie eröffnen ihm mit ihrer Frömmigkeit, mit ihrer Askese eine neue intellektuelle Heimat. Andererseits die Heirat 1847 mit Johanna von Puttkamer, die ihn bis zur Vergötterung bewunderte und, wie er sagte, zum "Anker an der guten Seite des Ufers" wurde.

1847 beginnt Bismarcks politische Karriere als Nachrücker im Vereinigten Landtag in Preußen. Drei Adjektive charakterisieren seine Einstellung zu dieser Zeit: konservativ, nationalistisch, antidemokratisch.

Das ist ganz richtig. Zu Beginn seiner politischen Karriere machte er sich als konservativer Heißsporn und als scharfzüngiger Redner einen Namen. Eine Zeitung merkte damals sogar an, dass man ihm im Landtag eine Nische in die Wand werde schneiden müssen, damit er noch weiter rechts sitzen könne. Nicht zuletzt wegen seines Redetalents bekam er trotzdem im Mai 1851 den wichtigsten Posten, den die preußische Monarchie damals zu vergeben hatte: Gesandter am Deutschen Bundestag in Frankfurt.

Als Jahre später die Stellung von König Wilhelm I. massiv gefährdet war, beruft dieser Bismarck 1862 zum preußischen Ministerpräsidenten. Was erhoffte sich der König von diesem Schritt?

Wilhelm wusste in jenem Moment überhaupt nicht, worauf er sich da einlässt: Für ihn galt Bismarck als Royalist und als unbedingt loyal zur Krone - und nicht zur Verfassung. Bei einem Vier-Augen-Gespräch im September 1862 stellte Wilhelm dann die entscheidende Frage: "Sind sie bereit, für die Heeresorganisation einzutreten, auch gegen die Majorität des Landtages?" Bismarck entgegnete, er wolle lieber mit dem Monarchen untergehen als ihn im Kampf mit der Parlamentsmehrheit im Stich zu lassen.

Kurze Zeit nach Bismarcks Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten beginnen die deutschen Einigungskriege, an deren Ende 1871 die Gründung des Deutschen Reiches steht. Wie verändert sich Bismarcks politische Haltung während dieser Jahre?

1871 sind die für Bismarck wichtigsten Ziele erreicht: Hinausdrängung Österreichs aus Deutschland und preußische Vormachtstellung sowie die Zementierung der monarchischen Macht im Staat. Für den neuen Reichskanzler Bismarck galt es von nun an, den Status quo einer schiefen Machtverteilung zwischen Parlament und Krone um jeden Preis zu wahren. Auf Dauer hatte er jedoch, trotz allen Fintenreichtums und ungeachtet aller Raffinesse, nur das Rezept, mit dem schon Metternich operiert hatte: die Unterdrückung der auf Fortschritt und soziale Gleichheit setzenden Kräfte der Bewegung.

"Blockade-Politik lässt sich nicht ewig durchhalten"

Es gibt ein bekanntes Zitat von Wilhelm I. über Bismarck: "Es ist schwer, unter diesem Kanzler Kaiser zu sein." Was meint er damit?

Das zeugt von einer Mischung aus Respekt und Resignation. Wilhelm I. war in der Beschränktheit des eigenen politischen Ansatzes gefangen und hatte gleichzeitig den Mythos von der Unersetzbarkeit Bismarcks verinnerlicht. Zudem beherrschte Bismarck die Kunst der Überredung meisterhaft und schaffte es so immer wieder, Wilhelm "auf Linie" zu bringen. Das war Ende der 1880er Jahre unter Wilhelm II. dann natürlich völlig anders.

Die Folge der Diskrepanzen zwischen dem jungen Kaiser Wilhelm II. und Bismarck ist schließlich die Absetzung des Reichskanzlers im März 1890. Als Nachfolger setzt der Monarch mit Leo von Caprivi einen willigen Handlanger ein.

Das stimmt. Wilhelm II. stand für ein persönliches Regiment, war aufgrund seiner erratischen Persönlichkeitsstruktur aber gar nicht in der Lage, die politischen Zügel in der Hand zu halten. Er war nicht der Mensch, der Beratern zuhören oder ein ausgiebiges Aktenstudium betreiben konnte.

Bismarck hat nach seiner Absetzung als Reichskanzler vielfach gegen seinen Nachfolger Caprivi und den Monarchen agitiert. Aus gekränkter Eitelkeit?

Sicherlich. Er hat sich beispielsweise in den Reichstag wählen lassen, ist dort aber nie erschienen. Sein Hauptinstrument waren jedoch seine Memoiren - eine politische Kampfschrift. Der Tenor lautete: An allem, was schief gelaufen war, war Bismarck selbst nicht beteiligt. Das Werk war der größte verlegerische Erfolg des Jahrhunderts. Ganz ähnlich wie bei Hitlers "Mein Kampf": Fast jeder Bürgerhaushalt hatte eine Ausgabe.

Wann hat nach der Phase der Heroisierung Bismarcks eine kritische Auseinandersetzung mit dem ersten deutschen Reichskanzler begonnen?

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die erste große kritische und substanzielle Biographie aus deutscher Feder stammt von Lothar Gall - er spricht dort von Bismarck als "Zauberlehrling" und "weißem (i.e. konservativen) Revolutionär". Damit bringt er Bismarcks modernen Konservatismus auf eine bündige Formel.

Wie lässt sich Bismarcks historisches Wirken aus heutiger Perspektive einordnen?

Er hat die fortschrittlichen, demokratischen Kräfte in ihrer Entwicklung zwar erheblich verzögert, konnte sie aber am Ende doch nicht aufhalten. Eine Blockade-Politik lässt sich eben nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt durchhalten, irgendwann überholt einen der Fortschritt. Dazu fällt mir der französische Diplomat Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord ein, der gesagt hat: "Mit Bajonetten kann man alles, außer darauf sitzen."

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