Schlaflosigkeit hat zu Unrecht einen schlechten Ruf. Es sind die Momente unendlicher Müdigkeit, in denen wie zufällig die Ideen entstehen, die alles andere überleben. So gegen zwei oder drei Uhr kann es schon gewesen sein. Die Verhandlungsführer in Wiesbaden hatten viele lange Nächte hinter sich. Es war die letzte Runde dieser ungewöhnlichen Verhandlungen. Sie wollten endlich fertig werden. Nun fragte der Hausherr der Staatskanzlei wie jedes Mal: "Das war's ja wohl, oder habt ihr noch was?" Und wie wohl an jedem Abend hatten sie noch was, die hessischen Grünen. So entstand die bizarrste Protokollnotiz, die je Einzug in einen deutschen Koalitionsvertrag fand: zum "Shanghaier Kugelfischabkommen", auf Seite 108, Punkt 2.4.
Man schrieb das Jahr 1985, die Grünen waren wenige Jahre alt, und diese Verhandlungen brachen mit einem Tabu. Selbst aus Sicht der Beteiligten, aber mehr noch für weite Teile des Bürgertums der Bundesrepublik. Hessens sozialdemokratischer Ministerpräsident Holger Börner ließ sich mit einer Truppe ein, die auf ihre Unberechenbarkeit stolz war.
Viele Grüne wollten gar nicht mitregieren, sie fühlten sich wohl mit dem Gedanken, dass sie nicht zur Mehrheit gehörten. Aber Börner brauchte einen Mehrheitsbeschaffer. Also verhandelte er über ein erstes rot-grünes Bündnis auf Landesebene. Umfragen zufolge ist das auch die wahrscheinlichste Regierungskonstellation nach der Landtagswahl am 22. September. Nach mehr als einem Jahrzehnt könnte Rot-Grün Schwarz-Gelb dort ablösen, wo einst alles anfing.
Gnadenlos basisdemokratisch
Vor fast 30 Jahren freilich war dies ein anderes Land, mit Parteien wie aus einer anderen Welt, auch wenn einige wenige bis heute dabei sind. Die Grünen waren gnadenlos basisdemokratisch, mit viel Distanz zum Staat. Heute ist ihr Spitzenkandidat Tarek Al-Wazir der beliebteste Politiker des Landes. Keiner nimmt ihm übel, dass er Minister werden will. Damals misstraute die Basis jeder Regierungsbeteiligung und den eigenen Leuten. Aus Angst vor Kungelrunden bestand sie darauf, dass jeder die Gespräche verfolgen könne. "Also wurde tagsüber öffentlich verhandelt", erinnert sich der Grüne Bernd Messinger. Es brachte wenig. Man ging kurz essen, bevor es ernst wurde. "Danach wurde nächtelang in der Staatskanzlei um Lösungen gerungen." Nicht öffentlich, versteht sich.
Messinger zählte zur Grünen-Delegation und gehörte eine Weile dem Landtag an. Jahre später wurde er Büroleiter der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU), die die Stadt bis zum vergangenen Jahr führte. 1985 war so eine Karriere unvorstellbar. Heute ist Messinger Büroleiter im Umwelt-Dezernat im Römer. An ihn verweisen die Grünen, auch wenn er sich längst mal geschworen hat, dass es genug sei mit der Geschichte vom Kugelfisch.
Sie hatten Selbstbewusstsein bis zum Gehtnichtmehr, viel guten Willen, aber von nichts konkret Ahnung. So erinnert er sich an die Anfangsjahre. Ein Koalitionsvertrag aber will konkret sein. In Frankfurt gab es ein Netz linker Anwälte, die ihnen vorab einflüsterten, was zu ändern sei. Vor der letzten Runde zur Ausländerpolitik, die Koalition war fast fertig, meldete sich ein Experte für Ausländerrecht: Sie sollten mal die Arbeitsgenehmigungen für ausländische Köche ansprechen, da gebe es zu viel Bürokratie. Er erwähnte wohl Japan und die Zubereitung von Kugelfischen - eine besondere Delikatesse, die aber falsch zubereitet, leider, hochgiftig ist.
Im Dickicht der Koalitionsphrasen: ein Stück Sponti-Kultur
Als Börner am Ende dieser langen Nacht wieder einmal fragte, ob die Grünen noch was hätten, kamen sie mit ein paar Brocken heraus. Da müsse was geändert werden. Es fiel wohl das Wort Shanghai, man ließ sich ein Datum einfallen, eine großspurige Forderung dazu. Die Fachleute aus dem Innenministerium hörten das alles, sie protestierten nicht.
Ein braver Protokollant der Staatskanzlei schrieb mit: "Die Fälle der Koppelung von Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis werden übereinstimmend als erledigt betrachtet (Shanghaier Kugelfischabkommen vom 3. 11.1974)." So steht es im Vertrag. Die anarchische Notiz überlebte im Dickicht der Koalitionsphrasen als markantes Stück Sponti-Kultur, auch wenn sie nie umgesetzt wurde. Wie auch? Es gab kein Kugelfischabkommen, dem man hätte beitreten können.
Die Koalition mit Joschka Fischer als erstem grünen Umweltminister hielt keine zwei Jahre; sie scheiterte an einem Konflikt um Atomanlagen. Politisch hat sie inhaltlich keine Spuren hinterlassen, aber sie steht für das erste Mal. Bald führte die CDU wieder die Regierung in Wiesbaden, später gab es eine längere rot-grüne Koalition unter Hans Eichel. Seit 1999 regiert die CDU in Wiesbaden, inzwischen geführt von Volker Bouffier. An den Kugelfisch erinnern sich die Grünen gelegentlich zu Jahrestagen. Es ist, was von damals hängenblieb. Jahre später schrieb Holger Börner einmal von einer Reise nach Shanghai eine Postkarte an Joschka Fischer: Er befinde sich auf den Spuren des Kugelfischabkommens.