Erste freie Wahlen in Ägypten:Chaotischer Beginn des Demokratie-Experiments

Eigentlich müssten die Ägypter jubilieren über die ersten freien Wahlen seit dem Sturz des Mubarak-Regimes. Doch die Bürger sind nicht feierlich gestimmt, sondern trotzig und fast ein bisschen verzweifelt. Viele wissen nicht, wie viele Kreuze machen müssen, bevor sie die Scheine in die Urne stopfen. Und die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz treibt vor allem eine Frage um: Was ist, wenn die Islamisten gewinnen?

Sonja Zekri, Kairo

Nach einer Woche des Aufruhrs, 40 Toten, Tausenden Verletzten und einem brüchigen Waffenstillstand auf dem Tahrir-Platz würde Mirwa Abdel Menaim, Lehrerin für Mathematik, Mutter zweier Kinder, gern wählen, zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie wird allerdings schon vorher fast zerquetscht.

Parlamentswahlen in Aegypten

Lange Schlangen vor den Wahllokalen: In Ägypten hat die erste Parlamentswahl seit dem Sturz des Regimes von Präsident Hosni Mubarak begonnen.  Ein Ergebnis wird erst am 13. Januar erwartet, denn die Abstimmung erfolgt in mehreren Stufen.

(Foto: dapd)

Im ersten Stock der Technischen Hochschule im Kairoer Arbeiterviertel Saida Seinab drängen sich die Frauen in einem Klumpen vor dem Wahllokal, schieben, schreien und treiben die jungen Soldaten an der Tür zur Verzweiflung. "Wir wollen Stabilität", sagt Mirwa im Gedränge. "Freiheit! Für unser Land", schreit eine Alte. "Wir hoffen, dass unsere Stimmen zählen", ergänzt Mirwa.

In Ägypten, einem Schlüsselstaat der Region, hat eine dreimonatige Schicksalswahl begonnen. Der Verlauf der ersten beiden Tage wird entscheiden, ob die Wahl fortgesetzt wird, welchen Weg Ägyptens Demokratieexperiment nimmt - und jetzt kommt Mirwa nicht mal rein! Immerhin weiß sie, wen sie wählt: "Ich kenne zwar nicht die einzelnen Kandidaten, aber ich vertraue meiner Organisation." Übersetzt heißt dies: Sie wählt "Freiheit und Gerechtigkeit", die Partei der Muslimbrüder, die bestorganisierte dieser Wahlen.

Drinnen, im Wahllokal ringt Richter Mohammed Ali Rumi um Überblick. Eine Alte kann nicht sehen und hat nur einen Zettel mitgebracht, nun muss er für sie ankreuzen. Einer der Beobachter ist nicht erschienen, also musste der Richter eine Wählerin verdonnern. Viele wissen nicht, wann sie wo wie viele Kreuze machen müssen, bevor sie die Scheine in eine der gläsernen Urnen stopfen und ihren Finger in blaue Tinte tunken. Am spannendsten wird ohnehin die Nacht: Um dem Andrang gerecht zu werden, lässt der regierende Militärrat pro Phase zwei Tage lang wählen. Rumi zieht eine Stange rotes Wachs und sein goldenes Siegel hervor und beruhigt: "Abends werde ich die Urnen versiegeln und an einen sicheren Ort des Gebäudes bringen lassen. Dort werden sie von der Armee bis zum Morgen bewacht." Wer Vertrauen in die Armee hat, wird dadurch beruhigt. Aber was ist mit den anderen?

"Die Islamisten haben ganze Arbeit geleistet"

Unten auf der Straße, hinter Riegeln gesichtsloser Wohnblöcke, winden sich Menschenschlangen bis zum Schultor - wie fast überall in der Stadt vor den Wahllokalen. Junge Männer verteilen Parteibroschüren, obwohl das am Wahltag verboten ist, und die Polizei - wie so oft zur falschen Zeit großzügig - erklärt, man drücke "ein Auge zu", weil die Lage so angespannt sei.

Sara Adel, 24, hat den Ägyptischen Block gewählt, dem auch die "Freien Ägypter" des Milliardärs Naguib Sawiris angehören, rechnet aber mit Bestergebnissen für die Muslimbrüder: "Heute haben die Islamisten ganze Arbeit geleistet", sagt sie bitter. Die Helfer der Muslimbrüder hätten Wähler angesprochen, die nicht lesen und schreiben können, ihnen Zettel mit den Namen oder dem Symbol ihrer Kandidaten gegeben und sie dann wählen geschickt.

Sara weiß, wie oft in Ägypten Wahlen gefälscht wurden und dass diese wegen der Unruhen nur begrenzte Legitimität haben. Ägyptens Medien berichten von kleinen Schlägereien. Wahllokale öffneten verspätet, Wahlscheine waren nicht gestempelt. Und überhaupt: Was sagt ein Urnengang über den Volkswillen aus, wenn Wahlzwang herrscht und bei Zuwiderhandlung eine Geldstrafe droht? Dennoch sind diese Wahlen für Sara alternativlos: "Wir wollen, dass sich unser Land ändert. Mit meiner Stimme kann ich wenigstens dazu beitragen, dass die Muslimbrüder nicht ganz so hoch gewinnen."

Die Angst des Tahrir-Platzes

Es ist die erste Wahl seit dem Sturz von Präsident Hosni Mubarak. Nach Jahrzehnten politischer Gängelung müsste Ägypten jubilieren, aber die Wähler sind nicht feierlich gestimmt, sondern trotzig, entschlossen, fast ein bisschen verzweifelt. Andere sind wütend. Heba Hosni ist Versicherungsagentin, und ihr Büro liegt am umkämpften Tahrir-Platz. "Drei Tage konnte ich nicht zur Arbeit gehen", giftet sie. Bei allem Verständnis für die Forderungen nach einem Ende der Militärregierung - Steine zu werfen, das gehe nicht. Heba sagt: "Meine Stimme ist auch ein Votum gegen den Platz."

Auf dem Tahrir weiß man das. "Wenn viele Menschen zur Wahl gehen, wird das Gegenteil von dem eintreten, was wir wollen", sagt Mohammed Abdelmenaim Said, Fischhändler aus Alexandria. Er ist am frühen Morgen einer von ein paar Hundert Unermüdlichen auf dem Platz, darunter beinharte Aktivisten, aber auch zerrissene Gestalten, kleine Gauner, Kinder mit Greisengesichtern vor Armut. Müllwagen karren den Dreck weg. Nachts hat es geregnet, über die Zelte sind Plastikplanen gespannt, und Mohammed Abdelmenaim Said sitzt in einem Plastikstuhl, sein verletztes Bein - eine Schusswunde vom Samstag - vorsichtig ausgestreckt und ahnt Schlimmes: Die Parteien haben den Platz im Stich gelassen, sagt er, sie folgen eigenen Interessen: "Wenn jetzt die Wahlen auch nur einigermaßen gut ablaufen, wird der Militärrat sich in seinem Kurs bestätigt sehen." Er wähle ganz sicher nicht.

Die Literaturstudentin Heba Faruk sieht das nicht so simpel: Sie will wählen, den links-zentristischen Block "Die Revolution geht weiter", obwohl sie weiß, dass sie vielleicht später auf den Tahrir zurückkehrt, um gegen die Konsequenzen der Wahl zu demonstrieren, wenn die Islamisten gewinnen. Wählen oder nicht? Tahrir-Platz oder Urne? Aufruhr oder kontrollierter Übergang? Das Land ist zerrissen, sagt Heba, der Platz ist zerrissen: "Und wir sind es innerlich auch."

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