Süddeutsche Zeitung

Erste demokratische Wahl in Libyen:"Dass wir diesen Moment erleben"

Früher beherrschte nur das Gesicht Gaddafis die Straßen in Libyen, heute, vor der ersten freien Wahl seit 42 Jahren, sind es Hunderte. Sogar Frauen kandidieren inzwischen für die Generalversammlung. Doch noch immer gibt es im Land zu viele Waffen und zu wenig Vertrauen.

Sonja Zekri, Tripolis

Der süße Modergeruch kommt vom Meer, aber er könnte auch aus dem schwer demolierten Gebäude des Volkskongresses kommen, der ehemaligen Akklamationsbühne für Muammar al-Gaddafis Inszenierung direkter Demokratie. "Saal der Märtyrer" heißt der Klotz heute, und unten findet Professor Munira Suahli, Menschenrechtsaktivistin und Expertin für politische Philosophie, einen Platz auf den Polstermöbeln des alten Regimes und erholt sich vom Wahlkampf.

Sie hat Plakate aufstellen und Poster drucken lassen, Flugblätter in Hochzeitssälen ausgelegt und vergangene Woche sogar eine Freiminute Wahlwerbung im Fernsehen bekommen. Sie hat davon gesprochen, dass sie sich für die Rentner einsetzen will und für die Jugendlichen, für die Rechte geschiedener Frauen und ein neues Arbeitsrecht. Umgerechnet 1800 Euro hat sie der Aufbruch in die Demokratie bis jetzt gekostet. "Ob ich gewählt werde, ist gar nicht so wichtig. Meine Kandidatur allein ist ein Sieg", sagt sie.

42 ihrer 45 Lebensjahre hat Munira Suahli mit Gaddafi verbracht, dem Revolutionsführer, der Libyen den "Massenvolksstaat" schenkte und das Grüne Buch, in dem Parteien als Diktatur galten, als Betrug am Volk. Nun kandidiert sie für die 200-köpfige Generalversammlung, die das Fundament für die neue politische Architektur legen soll. Verfassungskommission, neue Regierung, später ein Präsident - Libyen soll werden, was Gaddafi immer verhindern wollte: eine parlamentarische Demokratie.

Ein Land ordnet sich neu

"Niemand hätte gedacht, dass wir diesen Moment erleben", sagt ein Libyer. "Früher beherrschte ein Gesicht die Straßen, heute sind es Hunderte", freut sich ein anderer. Nach der politischen Auszehrung unter Gaddafi herrscht heute verwirrende Fülle. Über 2500 Unabhängige und mehr als 1200 Kandidaten auf Listen von 140 neuen Parteien konkurrieren um 200 Sitze. Gegen Munira Suahli treten in ihrem Wahlkreis in Tripolis im Kampf um drei Sitze 150 unabhängige Kandidaten an - darunter acht Frauen.

Anders als in der fast frauenfreien politischen Landschaft Ägyptens müssen auf libyschen Parteilisten abwechselnd ein Mann und eine Frau aufgeführt werden. Islamistische Vandalen haben viele Wahlplakate von Kandidatinnen zerschnitten, die Namen herausgetrennt, oft auch das Gesicht. "Sie wollen uns einschüchtern", sagt Munira, "aber es wird ihnen nicht gelingen."

Acht Monate nach dem Tod des Gewaltherrschers sieht Tripolis tatsächlich fast zivil aus. Die Milizen sind aus dem Stadtbild verschwunden und werden in Polizei, Armee oder Ministerien integriert. Dafür gibt es eine neue Verkehrspolizei. Die Märkte sind voll, hier und dort wird wieder gebaut. Am Strand toben Kinder. Die Öl-Produktion hat fast Vorkriegsniveau erreicht. Aber auf den Straßen stapelt sich der Müll, weil viele afrikanische Gastarbeiter abgereist sind und die Libyer diese Art Arbeit nicht mögen.

Die Bürokratie ist noch unübersichtlicher geworden, der Staat weiterhin schwach. In der Peripherie wie in der Wüstenstadt Kufra oder im Tuareg-Gebiet um Ghadames schwelen Konflikte zwischen Stämmen oder Volksgruppen. Es sind zu viele Waffen im Umlauf, kleine Streitigkeiten enden in Gewalt. Auch deshalb bemühen sich die Parteien um den Eindruck von Toleranz. Religiöse Parteien betonen ihre Offenheit, säkulare Parteien ihre Nähe zum Islam.

Eine der stärksten Formationen ist die "Allianz Nationaler Kräfte", ein Block aus 40 Parteien um Mahmud Jibril, den ehemaligen Vorsitzenden des Nationalen Übergangsrates. Er kandidiert zwar nicht, aber viele schätzen ihn als erfahrenen Politiker, der das Land schon auf die Zeit nach dem Ende der Ölvorräte in zwanzig oder dreißig Jahren vorbereiten will, zum Beispiel durch die Förderung des Tourismus. Er will Minderheiten integrieren und den exzessiven Zentralismus abbauen. Viele in Tripolis sehen ihn als möglichen Präsidenten. Als Favoriten dieser Wahlen aber gelten wie in Tunesien und Ägypten die Islamisten.

Auf einem windigen Parkplatz vor einem Shopping Center in Tripolis hält die Watan-Partei ("Heimat") eine mäßig besuchte Wahlveranstaltung ab. Ein Knirps kräht Patriotisches, Jugendliche verteilen Pizza. Auf der Bühne sitzt Scherif Ger-Achmed, ehemaliger Zöllner, jetzt Chefredakteur einer Zeitung für Sicherheitsfragen und Kandidat. "Es gibt kein Vertrauen zwischen Volk und Regierung", sagt er später. Die Menschen hielten den Nationalen Übergangsrat für intransparent, inkompetent, korrupt. "Aber erst wenn dieses Vertrauen da ist, werden sie die Waffen abgeben." Das Programm der Heimat-Partei umfasst außer der Umsetzung der Scharia auch eine starke Armee. Wird Libyen islamischer? "Egal, welche Verfassung wir uns ausdenken: Die Libyer werden in einem Referendum entscheiden", sagt Scherif.

Etikettenschwindel bei der Wahl? Ist ja nicht verboten!

Prominentes Mitglied der Heimat-Partei ist Abdel Hakim Belhaj, einst Kampfgefährte der Taliban in Afghanistan, dann Gefangener Amerikas und Großbritanniens, die ihn an Gaddafi auslieferten. Im vergangenen Jahr half er den Rebellen, Tripolis zu erobern und wurde Militärkommandeur der Hauptstadt. Neuerdings tritt Belhaj im Anzug auf, schüttelt Frauen die Hand. Aber wie viel Fortschritt bringt ein Politiker, der den Steinzeit-Islamisten nahestand und sich jetzt, wie es heißt, vom konservativen Golfemirat Katar finanzieren lässt? Scherif sagt lachend: "Alles Gerüchte. Die Menschen lieben ihn. Sie wissen: Er hat keine Angst."

Wie von den Frommen in Libyen bestellt, wurde in Ägypten gerade der erste frei gewählte Präsident ins Amt eingeführt: Mohamed Mursi, ein Muslimbruder. Nasar Kawan, libyscher Muslimbruder und Kandidat, ist beflügelt: "Eine Inspiration, ein Triumph für die Freiheit und die Revolution, die Blüte des Arabischen Frühlings."

Anders als in Ägypten haben die Muslimbrüder in Libyen keine Krankenhäuser oder Schulen betrieben, sie hätten das unter Gaddafi nicht überlebt. Er hat sie massakriert oder ins Exil getrieben, aber jetzt sind sie da, bestens organisiert und mit allen Wassern gewaschen. Kawan beispielsweise tritt als Unabhängiger an, dabei ist er Mitglied der Muslimbruderschaft und deren Partei "Gerechtigkeit und Aufbau". Wird er, der Unabhängige, nicht die Ideen der Muslimbrüder vertreten? "Natürlich." Ist das nicht Etikettenschwindel? Er sagt: "Das Wahlgesetz erlaubt es."

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SZ vom 06.07.2012/ske/rus
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