Süddeutsche Zeitung

Errol Morris zu Abu Ghraib:"Die Fotos betrügen uns"

Vor fünf Jahren kamen die Skandalbilder aus Abu Ghraib an die Öffentlichkeit. Seitdem ist Lynndie England das Postergirl für Folter weltweit - zu Unrecht, sagt Dokumentarfilmer Errol Morris.

Barbara Vorsamer

Dokumentarfilmer Errol Morris hat sich die Frage nach der Geschichte hinter den Folterbildern gestellt: In stunden- und tagelangen Gesprächen mit den Beteiligten versuchte er die Hintergründe herauszufinden.

Das Ergebnis seiner Recherchen ist die Dokumentation "Standard Operating Procedure", für den Morris auf der Berlinale 2008 den Großen Preis der Jury bekam. Zusammen mit dem Journalisten Philip Gourevitch fasste er seine Erkenntnisse auch noch einmal im gleichnamigen Buch zusammen, das im April 2009 im Hanser Verlag erschienen ist.

sueddeutsche.de: Vor fünf Jahren sind Bilder von Folterszenen aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis bei Bagdad an die Öffentlichkeit geraten. Die Welt war geschockt. Sie offensichtlich auch.

Errol Morris: Allerdings. Die Bilder hatten eine enorme Wirkung auf mich - aber ich glaubte nicht, dass sie die ganze Wahrheit enthielten.

sueddeutsche.de: Die Bilder zeigen Menschen, die gefoltert werden und ihre Peiniger. Ist das nicht eindeutig?

Morris: Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich so auf die Bilder, weil alle dachten, sie erzählen die ganze Geschichte. Ich habe Jahre mit den Fotos verbracht und bin noch immer außerordentlich fasziniert von diesem Effekt: Wir schauen sie an und glauben zu wissen, was sich in Abu Ghraib abgespielt hat. Doch wir wissen nichts. Die Fotos betrügen uns.

Wir wissen nicht, wie es zu diesen Fotos kam, wer die Häftlinge misshandelt hat, wer es befohlen hat. Wir wissen nicht einmal, ob die Bilder überhaupt die signifikanten Vorgänge zeigen. Vielleicht zeigen sie die schlimmsten Szenen, vielleicht zeigen sie aber nur die Spitze eines Eisberges.

Die Bilder erwecken die Illusion, dass nur die paar Leute, die mit auf den Bildern sind, die Täter sind - was sicherlich nicht die Wahrheit ist.

sueddeutsche.de: Nur die Soldaten, die auf den Fotos zu sehen sind, sind strafrechtlich belangt worden.

Morris: Richtig. Sie wurden dafür bestraft, auf Bildern zu sein. Ich glaube, sie wurden verfolgt, weil sie die Regierung bloßgestellt haben - nicht wegen dem, was sie getan haben.

Überlegen Sie zum Beispiel, was das berühmte Bild von Lynndie England wirklich beweist: Nur, dass sie eine Leine locker in der Hand hält. Alles weitere findet in der Phantasie des Betrachters statt. Dann kommt es einem lächerlich vor, dass sie verurteilt wurde und viele, viele andere nicht. Sie und ihre Kameraden sind nicht die Schuldigen.

sueddeutsche.de: Wer dann?

Morris: Einerseits sind es wir alle, also die amerikanische Öffentlichkeit. Wie sehr haben wir uns bemüht, die Bush-Regierung zu kontrollieren? Wie sehr haben wir sie zur Rechenschaft gezogen? Gar nicht. Zum anderen sind ganz klar Präsident Bush, sein Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, Vizepräsident Dick Cheney und viele andere hohe Beamte der US-Regierung verantwortlich.

Lesen Sie mehr über Schuld und Unschuld, warum Abu Ghraib gut für George W. Bush war und was der Unterschied zu den Nürnberger Kriegsprozessen ist.

sueddeutsche.de: Also sind die Soldaten Opfer der Umstände?

Morris: In gewissem Sinne. Sie standen unter enormen Druck von oben, auch vom Weißen Haus, das Informationen wollte und bereit war, die Umstände zu übersehen, in denen die Verhöre stattfanden.

Insofern finde ich es inakzeptabel, dass die Menschen, die auf den Bildern zu sehen sind, zum Teil mehrere Jahre Haft verbüßen mussten, während Präsident Bush, Verteidigungsminister Rumsfeld und andere absolut keine Konsequenzen zu befürchten haben. Meine Theorie ist: Der Folterskandal von Abu Ghraib half Präsident George W. Bush, wiedergewählt zu werden.

sueddeutsche.de: Wie das? Waren die Folterbilder nicht eine Belastung für ihn?

Morris: Sie waren vor allem eine Ablenkung von den Verfehlungen der Bush-Regierung. Die Öffentlichkeit schaute die Bilder und dachte: "Die waren's." Lynndie England, Charles Graner, Sabrina Harman und die anderen wurden zu Sündenböcken für das amerikanische Versagen im Irakkrieg gemacht.

sueddeutsche.de: Hat sich das seitdem geändert?

Morris: Leider nur sehr langsam. Inzwischen sind weitere Dokumente an die Öffentlichkeit gekommen, die nahelegen: Die Folter war von oben angeordnet.

Mich hat das nicht überrascht, mich hat die Überraschung der Öffentlichkeit überrascht: Denn dass die Misshandlung von Häftlingen kein Einzelfall, sondern Strategie war, ist meiner Meinung nach schon seit dem Abu-Ghraib-Skandal bewiesen. Leider verstehen noch heute viele Leute nicht, was die Bilder bedeuten und was sie nicht bedeuten.

sueddeutsche.de: Für Ihren Film "Standard Operating Procedure" haben Sie viele der Beteiligten getroffen, unter anderem Lynndie England. Was halten Sie von ihr?

Morris: Sie ist mir Sicherheit nicht die minderbemittelte, inkompetente Person, als die sie oft beschrieben wurde. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen war Lynndie England ein sehr junges Mädchen, zwanzig Jahre alt, völlig unerfahren und Hals über Kopf in ihren Vorgesetzten Charles Graner verliebt. Er war es, der den Gefangenen gefesselt hat und ihr die Leine in Hand drückte. Er hat auch das berühmte Foto gemacht.

Lynndie England als die Hauptschuldige des Folterskandals hinzustellen - das ist lächerlich. Und doch bestehen die Leute darauf, dass sie mehr oder weniger der Teufel ist. Sie ist heute das Postergirl für Folter weltweit.

sueddeutsche.de: Und sie und ihre Kameraden sind unschuldig an diesem Image?

Morris: Unschuldig sind sie natürlich nicht, weder juristisch noch moralisch. Doch nachdem ich viele von ihnen getroffen habe, bin ich der Meinung: Es sind Menschen wie du und ich. Sie sind nicht die Monster ohne Moral und ethisches Empfinden, als die man sie dargestellt hat.

Sabrina Harman (Anm. d. Red.: eine der am Folterskandal beteiligten Soldatinnen, die viele der Bilder schoss) schrieb aus Abu Ghraib viele Briefe an ihre Freundin, in denen sie ihre Bedenken und Ängste äußerte. Sie begründet das Fotografieren damit, beweisen zu wollen, zu welchen Gräueln sie gezwungen worden wären.

sueddeutsche.de: Ein Versuch, sich reinzuwaschen, oder?

Morris: Ich habe ihre Briefe selbst gesehen. Sie waren weder vordatiert noch gefälscht. Sie sind ebenso authentisch wie ihre Seelenqualen.

sueddeutsche.de: Dass man nur Befehlen gefolgt sei, ist aber spätestens seit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen gegen Nazi-Größen keine Entschuldigung mehr.

Morris: Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen den Nürnberger Kriegsverbrechern und den Folterern von Abu Ghraib: Die Angeklagten in Nürnberg waren hochrangige Nazis, Menschen, die nicht nur für die Umsetzung, sondern auch für den Entwurf der unmenschlichen Verfahren verantwortlich waren.

Nach Abu Ghraib landeten nur die untersten Chargen vor Gericht. Sie wurden zu Sündenböcken gemacht.

sueddeutsche.de: Sie sagen, die Folterer von Abu Ghraib sind Menschen wie du und ich. Meinen Sie damit wirklich, dass Sie und ich genauso gehandelt hätten?

Morris: Ich meine genau das. Und bedenken Sie: Es geht hier um Soldaten der untersten Hierarchieebene, denen eingebläut wird, Befehle ohne Widerrede umzusetzen.

Indem sie fotografierten, setzten sie sich allerdings über die Anordnungen ihrer Vorgesetzten hinweg. Das war aktiver Ungehorsam - und dafür müssen wir ihnen sogar danken. Gäbe es diese Bilder nicht, der Folterskandal von Abu Ghraib wäre niemals herausgekommen.

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