Süddeutsche Zeitung

Ermordung der Zarenfamilie:Mord nach Mitternacht

1918 ermorden Lenins Handlanger den letzten russischen Zaren samt Familie. Die Opfer hatten bis zuletzt gehofft, dass ein Verwandter sie rettet: der deutsche Kaiser.

Marcel Burkhardt

Der Tod kam im Dunkel der Nacht. Unter dem Vorwand, in der Stadt seien Unruhen ausgebrochen, die Zarenfamilie sei in ihren Gemächern nicht mehr in Sicherheit, rissen die Bewacher der Romanows Zar Nikolaus II. und dessen Angehörige kurz nach zwei Uhr morgens aus dem Schlaf.

In Russland tobte 1918 der Bürgerkrieg, der Zar hatte bereits ein Jahr zuvor nach der Februarrevolution abdanken müssen. Nachdem die Bolschewisten im Oktober die Macht ergriffen hatten, nahmen sie den Regenten mit Frau und Kindern fest und stellten ihn in Jekaterinburg am Ural unter Arrest - 1700 Kilometer von Moskau entfernt.

Die Bolschewisten befürchteten 1918 eine monarchistische Konterrevolution. Es könne zu Schusswechseln kommen, begründeten die Bewacher des Zaren an jenem 17. Juli ihr Drängen. Zu ihrem eigenen Schutz sollte die Familie in den Keller flüchten. Der Raum war kahl und hatte dicke Wände, die jedes Geräusch schluckten. Jener Kellerraum war die Todesfalle der Romanows. Hier wurde das Ende einer Dynastie besiegelt, die mehr als 300 Jahre über Russland geherrscht hatte.

Die Leichen im Wald verscharrt

Das Mordkommando tötete auf Lenins Befehl hin zunächst den Zaren, dann dessen Frau, die fünf Zarenkinder, den Leibarzt und drei Bedienstete. Nach minutenlangem Kugelhagel stachen die Täter mit Bajonetten auf die Körper ihrer Opfer ein.

Noch in derselben Nacht brachten die Bolschewisten die Leichen mit einem Lastwagen aus Jekaterinburg heraus. Sie entkleideten Nikolai II. und seine Angehörigen in einem Waldstück, übergossen sie mit Säure, zündeten sie an; mit dieser zeitaufwändigen Prozedur beseitigten sie zwei menschliche Überreste. Da aber monarchistische Truppen kurz vor Jekaterinburg standen, verscharrten die Mörder die anderen Opfer einfach. Anschließend fuhren sie mit dem Lastwagen mehrfach über das Grab.

Obwohl monarchistische Ermittler bereits kurze Zeit nach dem Mord Feuerstellen und Teile von teuren Kleidern und Knochen im Wald fanden, wurden die sterblichen Überreste der Zarenfamilie erst 1991 entdeckt. Dass auch Thronfolger Alexej und seine Schwester Großfürstin Maria unter den Toten waren, bewiesen sogar erst in diesem Jahr Gentests mehrerer Institute in Österreich, den USA und Schottland.

Am 17. Juli 1998 sollte zum 80. Jahrestag des Mordes mit dem Begräbnis der Zarenfamilie ein Schlussstrich unter die blutbefleckte Vergangenheit gezogen werden. Gegenüber der Peter-und-Paul-Festung in St. Petersburg wehte die zaristische Flagge in den Farben Gold und Schwarz. Erstmals nach mehr als acht Jahrzehnten. Die Soldaten der Ehrenwache hatten auf ihre Uniformen das Wappen der Romanows aufgenäht.

Sogar der damalige russische Präsident, Boris Jelzin, war dabei, als die sterblichen Überreste des Zaren beigesetzt wurden. Jelzin nannte den Mord an Nikolai II. eine der "schändlichsten Seiten" in der russischen Geschichte. Schuldig seien nicht nur die Täter, sondern auch alle, die diese Untat verschwiegen hätten. "Man darf sich nicht selbst belügen und sinnlose Grausamkeit durch politische Ziele rechtfertigen", mahnte Jelzin. Die Bestattung betrachtete er als "Akt der menschlichen Gerechtigkeit" und "Versuch der heutigen Generation von Russen, ihre Sünden zu büßen".

Bis heute streiten Geschichtsgelehrte, ob der deutsche Kaiser den russischen Zaren hätte retten können. Nikolaus II. war durch seine Heirat mit Alice von Hessen-Darmstadt mit Wilhelm II. verschwägert. Als Nachkomme Charlotte von Preußens war der Zar zugleich Wilhelms Neffe dritten Grades. Die beiden schätzten sich allerdings nicht besonders.

Vergebliches Hoffen auf Wilhelm II.

Die Bitte, Nikolai Asyl zu gewähren, lehnte Wilhelm mit dem Argument ab, die Bolschewisten könnten darin einen Versuch sehen, die monarchistischen Kräfte in Russland zu unterstützen. Er ließ nur "eindringliche Mahnungen" übermitteln, den Zaren nicht zu töten.

Die Nachricht vom Mord an seinem Verwandten ließ Wilhelm kalt, wie aus dem Bericht eines Beamten des Auswärtigen Dienstes hervorgeht: "Seine Majestät haben bemerkt, dass ... wir nun dem übrigen Russland gegenüber in schwieriger Lage seien. Es müsse dafür gesorgt werden, dass Entente uns nicht für Ermordung verantwortlich mache; der Versuch werde sicher gemacht werden."

Die deutschen Diplomaten bemühten sich allerdings um die Zarin und deren Schwester. Sie verlangten von den Bolschewisten, den Damen "mit aller möglichster Rücksichtnahme zu begegnen". Ohne eigenes Informantennetz in Russland mussten sich die Deutschen allerdings auf die Nachrichten der Bolschewisten verlassen, die ihnen noch Jahre nach dem Mord vorgaukelten, die Zarin und ihre Kinder lebten bei guter Gesundheit.

Nikolaus II. hatte nicht nur beim deutschen Kaiser keinen Rückhalt. Im eigenen Volk war er zu Lebenszeiten als schwacher Zar und Kriegsherr unbeliebt, gegen Ende seiner Regentschaft gar verhasst. Nikolai II. klammerte sich als unumschränkter Alleinherrscher an alte, halbfeudale Strukturen, verhinderte Reformen, und brach mehrfach willkürlich die Verfassung. Der Beginn des Ersten Weltkrieges bedeutete den Anfang vom Ende seiner Herrschaft. Schwere Niederlagen auf den Schlachtfeldern und Hungersnöte im Volk führten letztlich zur Revolution.

Durch den grausamen Tod des Zaren änderte sich jedoch der Blick auf ihn. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ließ die orthodoxe Kirche die Zarenfamilie im August 2000 sogar als Märtyrer heilig sprechen. Ikonen zeigen Nikolaus II. und seine Angehörigen seitdem in jeder russisch-orthodoxen Kirche, sowohl in Russland als auch im Ausland.

Heute ist seine Todesstätte in Jekaterinburg ein Wallfahrtsort für orthodoxe Gläubige. Ein gewaltiger, zehn Millionen Euro teuer Bau erhebt sich dort als neues leuchtendes Wahrzeichen der Stadt - die "Kirche auf dem Blute". Fünf goldene Kuppeln krönen das Gotteshaus aus weißem Stein. Im Inneren erinnern sieben Gedenktafeln an einer Seitenwand im düsteren Untergeschoss an Nikolaus II. und seine Familie.

Auch die damalige Begräbnisstätte außerhalb der Stadt ist ein Wallfahrtsort geworden. Mitten in einem Birkenwald nordöstlich von Jekaterinburg hat die orthodoxe Kirche das "Kloster der heiligen Zaren-Märtyrer" errichtet - rund um einen alten Minenschacht, in dem im Juli 1918 angeblich die verstümmelten Leichen des letzten Zaren und seiner Familie verscharrt worden sein sollen.

Der Präsident bekreuzigte sich

Zwar wurden die Überreste der Romanows tatsächlich woanders gefunden, aber die Kirche hat diesen Ort zur "Stätte der nationalen Sünde" erklärt. Jeder Russe, heißt es, müsse hier Abbitte leisten für den Verrat am Zaren und seiner Familie. Der Patriarch hat diesen Boden geweiht, Wladimir Putin hat sich hier bekreuzigt.

Angeblich wirken an diesem Ort wundersame Kräfte, die Kranke heilen können. So wird die Schar der Besucher von Jahr zu Jahr größer. Am Jahrestag des Zarenmordes pilgern die Gläubigen zu Tausenden von der Jekaterinburger Blutkirche zum Kloster.

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