Ermittlungen gegen SS-Mann:Ein verhängnisvoller Brief

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Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den früheren SS-Mann Erich Steidtmann - er soll an Massakern im besetzten Polen beteiligt gewesen sein.

Christoph Cadenbach und Bastian Obermayer

Die Staatsanwaltschaft Hannover hat aufgrund von Recherchen des Süddeutsche Zeitung Magazins Ermittlungen gegen einen ehemaligen SS-Hauptsturmführer wieder aufgenommen. Der 95 Jahre alte Erich Steidtmann steht im Verdacht, als Hauptmann der Polizei mit einer ihm unterstellten Kompanie im Herbst 1943 an zwei Massenerschießungen von Juden beteiligt gewesen zu sein.

Erich Steidtmann steht im Verdacht, im Herbst 1943 an zwei Massenerschießungen von Juden beteiligt gewesen zu sein. Im Bild: Historisches Foto der Kopfbedeckung eines SS-Offiziers. (Foto: Foto: AP)

Bei den Massakern im Raum Lublin im besetzten Polen wurden etwa 30.500 Menschen ermordet. Außerdem gab das Simon-Wiesenthal-Center bekannt, Steidtmann an diesem Donnerstag auf die Liste der meistgesuchten Naziverbrecher weltweit zu setzen.

Gegen Erich Steidtmann wurde schon in den sechziger und siebziger Jahren ermittelt, allerdings wurde das Verfahren 1974 mangels Beweisen eingestellt. 2007 lenkte er dann den Blick der Öffentlichkeit selbst noch einmal auf seine Rolle im Dritten Reich: Damals klagte er gegen die Autobiografie der ehemaligen Gestapo-Sekretärin Lisl Urban, die in ihrem Buch von einer Liebesbeziehung mit einem SS-Offizier schrieb.

Obwohl er anonymisiert war, erkannte sich Steidtmann darin wieder und sah seine Persönlichkeitsrechte verletzt (SZ vom 17.12.2007). Am Rande erwähnte Steidtmann in seiner Klageschrift, dass die Einheit, die er Anfang 1943 führte, mit der Bewachung des Warschauer Ghettos betraut war.

Auf dieses Bekenntnis stieß der Historiker Stefan Klemp, der im Auftrag des Simon-Wiesenthal-Centers arbeitet. Klemp fand Belege dafür, dass Steidtmann auch im Ghettokampf eingesetzt war und übergab seine Vorrecherche der Staatsanwaltschaft. Diese stellte jedoch im Januar 2009 aufgrund der schlechten Beweislage das Verfahren ein, ohne Erich Steidtmann zu den Vorwürfen vernommen zu haben.

Zweifelhafte Aussage

Allerdings war Steidtmann nicht nur Kompanieführer im Warschauer Ghetto, sondern führte im Herbst 1943 auch eine Kompanie im Raum Lublin, wo am 3. und 4. November die Massenerschießungen der sogenannten Aktion Erntefest stattfanden.

Dass Steidtmanns Einheit, die erste Kompanie des Polizeibataillons 101, an diesen Massakern beteiligt war, gilt als gesichert: Der amerikanische Historiker Christopher R. Browning, Autor eines Standardwerks über das Polizeibataillon 101, kam zu dem Schluss, die Männer des Bataillons hätten "an so gut wie jeder Phase der Aktion" teilgenommen, nur geschossen hätten Spezialeinheiten. Steidtmann behauptete jedoch in einer Vernehmung 1963, er sei zu dieser Zeit auf Heimaturlaub gewesen.

Im Zuge der Recherchen fand das SZ-Magazin nun in einem Brief Steidtmanns einen Hinweis, der gegen seine Aussage spricht. Dieser Brief datiert vom 31. Oktober 1943, also drei Tage vor dem Massaker, und Steidtmann schrieb ihn offensichtlich aus dem Einsatz: Anstelle seiner Heimatadresse und der üblichen Ort/Datum-Kombination setzt Steidtmann seine Feldpostnummer und das Kürzel "O.U." für "Ortsunterkunft".

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Dieses Kürzel war Vorschrift bei Feldpost, damit abgefangene Briefe feindlichen Truppen nicht verrieten, wo die Einheit stationiert war. Als derzeitigen Wohnsitz gab er den "Standort Lublin" an. All das bedeutet: Steidtmann war an diesem 31. Oktober vermutlich nicht im Urlaub.

Wo er sich drei Tage später aufhielt, wird nun zu klären sein. Der Historiker Christopher R. Browning sagte dazu auf Nachfrage, es sei "vollkommen unglaubhaft, dass der Führer einer Kompanie in Lublin drei Tage vor dem 'Erntefest' abreisen sollte, gerade als seine Kompanie sich aufmachte, an einem großen Einsatz teilzunehmen."

Auf der Suche nach Zeugen

All dem wird die Staatsanwaltschaft Hannover in den kommenden Wochen auf den Grund gehen, jedenfalls so weit dies heute noch möglich ist. In jedem Fall aber wird sie Erich Steidtmann befragen lassen und versuchen, noch lebende Zeugen ausfindig zu machen.

Auch Steidtmanns Rolle im Warschauer Ghetto wird wohl noch einmal genauer untersucht werden. Er hatte 1963 in seiner ersten Befragung zu Protokoll gegeben, er habe sich dort "als Stoßtruppführer zur Ausräucherung und Einzelliquidierung von Widerstandsnestern freiwillig gemeldet".

Es könnte also zu einem weiteren Kriegsverbrecherprozess in Deutschland kommen. Zuletzt wurde in Aachen der frühere SS-Mann Heinrich Boere, 88, zu lebenslanger Haft verurteilt. Er hatte gestanden, 1944 in den besetzten Niederlanden drei Zivilisten erschossen zu haben. In München steht derzeit John Demjanjuk, 90, vor Gericht, der im Vernichtungslager Sobibor am tausendfachen Judenmord beteiligt gewesen sein soll. Auch gegen Zeugen aus diesem Prozess, wie der Angeklagte mutmaßliche Wachmänner, wird derzeit ermittelt.

© SZ vom 22.04.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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