Süddeutsche Zeitung

Ermittler im Mordfall Franz Ferdinand 1914:Leo Pfeffer, der ratlose Richter

Leo Pfeffer, der 1914 den Erzherzogs-Mörder Gavrilo Princip und seine Komplizen vernahm, gilt als Held. Der Gerichtssekretär soll versucht haben, den Ersten Weltkrieg zu verhindern. Eine schöne Geschichte ist das - nur stimmt sie leider nicht.

Von Hubert Wetzel

Zwanzig Schüsse, erst dann war Dragutin Dimitrijević tot. Es war Dienstag, der 26. Juni 1917, über der griechischen Stadt Thessaloniki ging gerade die Sonne auf.

Die Erschießung von Dimitrijević, einst Chef des serbischen Armeegeheimdienstes und einer der mächtigsten Männer in Belgrad, war ein staatlich organisierter Mord: Er habe, so warf man ihm vor, den serbischen Premierminister Nikola Pašić stürzen und Prinzregent Alexander töten wollen. Nichts davon stimmte, der Prozess und das Todesurteil waren eine Farce.

Allerdings war Dimitrijević kein Unschuldiger. Im Gegenteil, er hatte reichlich Blut an den Händen. Im Sommer 1903 führte er eine Gruppe putschender Offiziere an, die das serbische Königspaar ermordeten.

Später war der fanatische Nationalist der Spiritus Rector des Geheimbunds "Schwarze Hand", der sich dem Kampf für ein Großserbien verschrieben hatte. Und irgendwann um die Jahreswende 1913/14 setzte Dimitrijević - in Serbien unter dem Decknamen Apis (Stier) bekannt und gefürchtet - einen Plan in Gang, der ganz Europa ins Verderben stürzte: die Ermordung des österreich-ungarischen Thronfolgers, Erzherzog Franz Ferdinand, bei dessen Besuch in Sarajewo am 28. Juni 1914.

Ein Mörder wird Opfer eines Justizmordes

Dimitrijević war der Mann hinter dem folgenschwersten Verbrechen des 20. Jahrhunderts - einem Mord, der millionenfachen Tod nach sich zog. Doch er wurde zu Lebzeiten wegen dieses Verbrechens nie angeklagt oder bestraft, ja nicht einmal öffentlich beschuldigt. Als die serbische Regierung ihn schließlich aus dem Weg räumen ließ, geschah das unter fadenscheinigen Vorwürfen, die mit dem Attentat in Bosnien nichts zu tun hatten. Allein darin steckt schon viel bittere Ironie.

Fast skurril mutet jedoch ein anderer Aspekt des Anschlags an: Als die österreichische Regierung Serbien beschuldigte, hinter dem Attentat zu stecken, als sie im Juli 1914 jenes fatale Ultimatum an Belgrad stellte und dann einen Krieg vom Zaun brach, wusste sie von Dimitrijevićs Verwicklung in den Anschlag überhaupt nichts; ebenso wenig davon, dass Serbiens Premier Pašić die Attentatspläne gekannt hatte. Die Ermittler in Sarajewo hatten von den Hintergründen des Attentats nur wenig aufgedeckt. Die Spur in die höchsten politischen und militärischen Kreise in Belgrad existierte - aber sie war im Spätsommer 1914 noch nicht gefunden worden.

Der Mann, der das Attentat aufklären sollte, war Gerichtssekretär Leo Pfeffer. Er war Untersuchungsrichter am Kreisgericht in Sarajewo, der Hauptstadt der 1908 von Österreich annektierten Provinz Bosnien-Herzegowina, und unter anderem für Verstöße gegen die politische Zensur zuständig. Auf Pfeffers Tisch landete am 28. Juni 1914 der Mordfall Franz Ferdinand.

Über Pfeffer selbst ist wenig bekannt. Personalakten aus seiner Dienstzeit lassen sich nicht auftreiben. Die Verwaltung Bosniens oblag dem k.u.k. Finanzministerium in Wien, nach dem Zerfall der Monarchie wurden alle Akten der jugoslawischen Botschaft übergeben. Diese verfrachtete sie zunächst, wie das Österreichische Staatsarchiv mitteilt, "per Donauschiff nach Belgrad". Dort wurden sie im Zweiten Weltkrieg von deutschen Truppen beschlagnahmt und wieder nach Wien gebracht.

1947 erfolgte der zweite Rücktransport, diesmal ins bosnische Landesarchiv in Sarajewo. Im Februar 2014 sind große Bestände dieses Archivs bei einem Brand vernichtet worden. Anfragen nach Akten zu Leo Pfeffer blieben unbeantwortet.

Im Film stemmt sich Pfeffer gegen die Kriegstreiber

In dem Fernsehfilm "Das Attentat", der jüngst im ZDF lief, wird Pfeffer als unbestechlicher Ermittler dargestellt, der sich gegen die Kriegstreiber in Politik und Militär stemmt und hinter dem Anschlag eine Verschwörung sieht, womöglich mit österreichischer Beteiligung - Pfeffer, der letzte Mann zwischen Europa und der Katastrophe.

Doch die Liebe zu einer Serbin macht ihn erpressbar und lässt ihn am Ende einknicken. Er unterschreibt die Anklage gegen den jungen serbischen Attentäter Gavrilo Princip und dessen Komplizen und liefert so den Kriegsgrund. Etliches davon ist erfunden, aber nicht alles: Tatsächlich hat Pfeffer in den Zwanzigerjahren ungenannten Personen in Wien vorgeworfen, an dem Attentat beteiligt gewesen zu sein.

Auch der Schriftsteller Milo Dor hat sich in seinem 1982 erschienenen Roman "Der letzte Sonntag" mit Leo Pfeffer beschäftigt. Darin erzählt er das Attentat von Sarajewo aus der Sicht des ermittelnden Richters. Pfeffer ist bei Dor ein treuer Familienvater, ein gewissenhafter Beamter, Spross einer armen jüdischen Gewürzhändlerfamilie aus der östlichen Provinz, dessen Großvater sich taufen ließ, damit es die Kinder und Enkel im katholischen Habsburger-Reich leichter haben; ein Mann, bei dem es selbst im fremden Sarajewo jeden Sonntag Wiener Schnitzel gibt und der vielleicht abstrakt an so etwas wie die Wahrheit glaubt.

Vor allem aber glaubt er an das, was die brüchige Vielvölkermonarchie zusammenkittet: Recht und Gesetz. Leo Pfeffer ist bei Dor ein Jurist bis ins Mark - was er nicht lückenlos beweisen kann, gibt es nicht.

Doch ob Pfeffer nun ein flamboyanter Kriegsgegner oder nur ein penibler Beamter war, ist eher zweitrangig. Die Wahrheit ist: Pfeffer hätte kaum etwas ermitteln können, das einen Vergeltungsangriff Österreichs auf Serbien verhindert hätte. Wenn Historiker später Kritik an dem Richter übten, dann nicht daran, dass er sich dem Druck irgendwelcher Serbenhasser in Politik oder Armee gebeugt habe; sondern dass er die Verbindungen der Attentäter zur serbischen Regierung, vor allem aber zum serbischen Militär und zu Dimitrijević eben nicht erkannt hat.

Ob Pfeffer der beste Ermittler des Kreisgerichts in Sarajewo war, lässt sich 100 Jahre später nicht mehr klären. Fest steht jedoch, dass er es, als er die Ermittlungen am 28. Juni 1914 übertragen bekam, zunächst noch nicht mit einem Mordfall zu tun hatte: Einige Stunden bevor Princip die tödlichen Schüsse auf Franz Ferdinand und dessen Ehefrau Sophie abgab, hatte sein Komplize Nedjelko Čabrinović bereits eine Bombe auf den Konvoi des Erzherzogs geworfen. Diese verwundete jedoch nur einige Zuschauer und Offiziere aus der Entourage.

Čabrinović wurde verhaftet und Pfeffer zur Vernehmung vorgeführt. Erst nach den Todesschüssen und der Verhaftung Princips wurde Pfeffer dann zum verantwortlichen Ermittlungsrichter im heikelsten politischen Mordfall des jungen Jahrhunderts.

Pfeffer war kein sehr aggressiver Ermittler. Obwohl er bereits am 28. Juni zwei Attentäter in seinem Gewahrsam hatte, lehnte er jegliche Drohung mit Gewalt gegen die Verdächtigen oder gar Folter ab - obwohl er mit solchen illegalen Mitteln angesichts der Prominenz der Opfer wohl durchgekommen wäre. Pfeffer, scheibt Dor, "verabscheute jede Art von Gewalt".

Doch auch der Verhörstil Pfeffers war eher zurückhaltend. Nach allem, was man aus den Akten weiß, ließ der Richter die Verdächtigen in aller Ruhe erzählen, er fragte bei Widersprüchen nur gemächlich nach, manchmal erst nach Tagen; selten konfrontierte er einen Verhafteten mit anderslautenden Aussagen von Komplizen. "Pfeffer hat sehr viel zugehört und sehr wenig nachgebohrt", urteilt der Historiker Joachim Remak in seiner 1959 erschienenen Abhandlung "Sarajevo. The Story Of A Political Murder", bis heute ein Standardwerk.

Die politische Dimension des Attentats schien Pfeffer nicht so wichtig gewesen zu sein. Er versuchte, formaljuristisch so korrekt wie möglich einen Mord aufzuklären. Pfeffer hat später geschrieben, er habe freiwillige, unabhängige Geständnisse der Attentäter erreichen wollen. Diese aber wollten vor allem die Spuren verbergen, die nach Belgrad zu Dimitrijević und zur "Schwarzen Hand" führten.

Ihr eigenes Schicksal war ihnen - darin waren sie echte Fanatiker - egal. So kam es, dass die Ermittlungen rasch feststeckten: Čabrinović und Princip behaupteten einfach, auf eigene Faust gehandelt zu haben. Etwas anderes konnte ihnen Pfeffer nicht nachweisen.

Der Helfer wurde nervös - und packte aus

Dass überhaupt eine Verbindung der Attentäter nach Belgrad entdeckt wurde, war eher Zufall: Die Polizei in Sarajewo nahm in den Tagen nach dem Anschlag Dutzende Serben fest, die irgendwie verdächtig erschienen. Unter ihnen war auch der Lehrer Danilo Ilić, ein junger serbischer Nationalist und Freund von Princip. Ilić hatte den Attentätern geholfen, aber das wusste Pfeffer nicht.

Als Ilić dem Richter gegenübersaß, wurde er nervös - und packte aus. In diesem Moment wurde Pfeffer bewusst, dass in den Mord auch Personen in Belgrad verwickelt waren. "Hätte Ilić kühlen Kopf bewahrt und beim Verhör irgendeine Geschichte aufgetischt, er wäre vermutlich binnen weniger Tage wieder entlassen worden", schreibt Remak. Doch Ilić habe Angst gehabt und geredet.

Nach Ilićs Aussage wurden weitere Unterstützer der Attentäter verhaftet. Klar war nun, dass etliche serbische Staatsbeamte geholfen hatten, die Attentäter und deren Waffen nach Bosnien zu schmuggeln. Allerdings kam die Wahrheit nur langsam ans Licht. Čabrinović warf Pfeffer ein Bröckchen hin, als er den Namen von Milan Ciganović nannte, einem serbischen Bahnangestellten aus Belgrad, der den Attentätern das Schießen beigebracht hatte. Eine Mitschuld der serbischen Regierung oder Armeespitze ließ sich so aber nicht belegen, dazu waren die entdeckten Helfer zu unbedeutend.

Der Name des Drahtziehers fehlt in der Anklage

Danach dauerte es wieder Tage, bis die Attentäter einen weiteren Mitverschwörer in der serbischen Hauptstadt nannten: Major Voja Tankosić, ein Vertrauter von Geheimdienstchef Dimitrijević und ebenfalls Mitglied der "Schwarzen Hand". Näher als bis zu Tankosić ist Pfeffer an die wahren Hintermänner des Attentats nie herangekommen. Und ausgerechnet diese Verbindung in die allerhöchsten Ränge des serbischen Militärs entging Pfeffer. Insgesamt verschleierten die Attentäter ihre Auftraggeber sehr erfolgreich. In der Anklageschrift kamen weder Dimitrijević noch die "Schwarze Hand" vor.

Am 23. Juli 1914 schickte Wien das Ultimatum nach Belgrad. Auch darin wurden namentlich außer den Attentätern als Belgrader Helfer nur Ciganović und Tankosić genannt. Zuvor hatte ein nach Sarajewo entsandter Beamter aus Wien, der Pfeffers Ermittlungsakten gesichtet hatte, an seine Vorgesetzten gekabelt, es gebe keinerlei Hinweise darauf, dass die serbische Regierung von dem Attentatsplan gewusst habe.

Das war Stand der Untersuchungen - aber falsch: Nicht nur hatte ein hoher serbischer Offizier den Anschlag in Auftrag gegeben. Auch Serbiens Regierungschef Pašić war schon früh im Bilde und hatte sogar (aus Furcht vor einem Krieg) versucht, die Regierung in Wien zu warnen; seine Warnung jedoch fiel (aus Furcht davor, als Verräter zu gelten) so vage aus, dass die Österreicher sie nicht verstanden.

Diese Mitwisserschaft, die Pfeffer tatsächlich unmöglich hätte herausfinden können, war vermutlich ein Grund, warum Pašić seinen Rivalen Dimitrijević später erschießen ließ.

Den Politikern war die mühsame Wahrheitssuche des Gerichtssekretärs Leo Pfeffer in Sarajewo freilich ohnehin egal. Sie wollten Krieg. Und sie bekamen Krieg.

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Quelle:
SZ vom 28.06.2014/odg
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