In Deutschland hat es zuletzt nicht an Versuchen gefehlt, sich in die Lage des russischen Präsidenten zu versetzen. Im Fernsehen konnte Wladimir Putin ausführlich seine Sicht darlegen, vor allem auch auf die Nato. Mehrere Wellen der Nato-Erweiterung hätten, klagte er, den "geopolitischen Raum erheblich verändert". Die Vermutung, der Nato-Beitritt vieler Länder aus dem Osten habe Russland in die Ecke gedrängt und so zum Drama in der Ukraine wesentlich beigetragen, ist für nicht wenige auch im Westen mittlerweile eine Gewissheit. Das erklärte Ziel der neuen Koalition in Kiew, die Ukraine in die Nato zu führen, muss da als abenteuerlich erscheinen - jedenfalls solange der Versuch unterbleibt, sich auch einmal wieder in die ukrainische Lage zu versetzen.
Dann ergibt sich ein differenzierteres Bild. Das ukrainische Streben in die westliche Allianz hat eine Vorgeschichte. 2002 hatte der damalige Präsident Leonid Kutschma den Wunsch seines Landes erklärt, der Nato beizutreten. Es folgten Annäherungsversuche, die 2008 mit einer Absage erster Klasse endeten. Bundeskanzlerin Angela Merkel verhinderte auf dem Gipfeltreffen in Bukarest den Beginn eines Aufnahmeverfahrens für Georgien und die Ukraine. Beide Länder bekamen nur die wertlose Versicherung, irgendwann würden sie einmal Mitglied werden. Zwei Jahre später widerrief die Ukraine ihren Beitrittswunsch und erklärte sich für blockfrei. Auch wenn es nicht zum populären Feindbild einer nimmersatten Nato passt: In der Allianz gab man sich, erfreut ein Streitthema los zu sein, damit zufrieden.
Russland tut einem Land Gewalt an - und inszeniert sich als Opfer
Die Ukraine handelte aus damaliger Sicht vernünftig. Sie suchte die von einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung gewünschte Annäherung an den Westen auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet, ohne Moskau durch weitere Nato-Pläne zu provozieren oder die russische Marine-Präsenz auf der Krim infrage zu stellen. Genügen sollte jene Garantie ihrer Grenzen, welche die Ukraine 1994 für den Verzicht auf Atomwaffen auch von Russland erhalten hatte. Wie wenig diese Garantie wert gewesen ist, weiß die Welt seit der Annexion der Krim und der von Russland befeuerten Gewalt im Osten der Ukraine.
In dieser Hinsicht ist Wladimir Putin ein unglaublicher Public-Relations-Coup gelungen. Obwohl Russland es ist, das einem Nachbarland Gewalt angetan hat und antut, ist es das vermeintliche oder tatsächliche Gefühl der Bedrohung des Täters, das immer mehr in den Vordergrund rückt. So wird das Bild von Russland als Angreifer verwischt oder wenigstens ersetzt durch eines, das den "kalten Kriegern" Putin und Merkel gleichermaßen vorhält, Europa an den Abgrund gebracht zu haben. Verständliche Ängste der Ukraine und anderer blendet diese Sichtweise aus.
Wenn Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier nun klarstellt, er sehe keine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, dann ist das zunächst Realpolitik. Gegen den Widerstand auch nur eines Nato-Mitglieds kann niemand dem Bündnis beitreten. Im Falle der Ukraine finden sich ohnehin nur wenige, die in absehbarer Zeit eine Aufnahme für realistisch halten. Die angeblich so kriegerische Allianz will eben gerade keinen Showdown mit Russland. Überdies ist das Vorhaben in der Ukraine selbst keineswegs unumstritten.
Verwerflich aber wäre es, wenn die Nato der Ukraine gerade jetzt jede Hoffnung auf künftige Mitgliedschaft rauben würde. Gerade jetzt, nachdem sie gelernt hat, dass es für sie keine verlässliche Sicherheit gibt außerhalb der Allianz und dem dort geltenden Beistandsversprechen. Bisher verfolgt die Nato die Politik einer zumindest theoretisch offenen Tür. Damit trägt sie dem Postulat der freien Bündniswahl Rechnung. Gäbe die Nato dieses Postulat preis, so wäre das Putins größter Sieg.