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Ergebnisse des Referendums:Irisches Nein stürzt Europa in die Krise

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Die Iren haben den EU-Reformvertrag mit 53,4 Prozent Gegenstimmen abgelehnt. Mit wenigen Ausnahmen reagieren Politiker quer durch die Länder und Lager mit Bestürzung. Die Suche nach einem Ausweg läuft auf Hochtouren - Kommissionspräsident Barroso, Kanzlerin Merkel und der französische Präsident Sarkozy rufen die Mitgliedsstaaten zur Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses auf.

Die Iren haben den Reformvertrag von Lissabon zu Fall gebracht und die Europäische Union in eine schwere Krise gestürzt. 53,4 Prozent der Wähler (862.415 Personen) votierten mit Nein, 46,6 Prozent mit Ja (752.451 Personen), wie die Wahlkommission an diesem Freitag nach Auszählung aller 43 Wahlbezirke bekanntgab. Irland hatte als einziger der 27 EU-Staaten die Bürger um ihre Meinung gefragt. Die Wahlbeteiligung lag bei 53 Prozent.

Die EU-Kommission hat die Mitgliedsländer der Europäischen Union unterdessen aufgerufen, die Ratifizierung des Reformvertrags fortzusetzen. Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso erklärte in Brüssel, 18 EU-Staaten hätten bereits zugestimmt. "Die Europäische Kommission glaubt, dass die verbleibenden Ratifizierungen weitergehen sollten."

Die Kommission respektiere das Votum der Wähler in der Volksabstimmung und gehe davon aus, dass Irland sich auch in Zukunft zum Aufbau eines starken Europa bekenne, sagte Barroso weiter.

Gemeinsame Stellungnahme von Merkel und Sarkozy

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy appellieren in einer ersten Stellungnahme an die anderen EU-Partner, die Ratifizierung des Lissabon-Vertrages fortzusetzen. In 18 Mitgliedsstaaten sei die Ratifizierung bereits abgeschlossen, erklärten sie. "Wir erwarten daher, dass die anderen Mitgliedsstaaten ihre innerstaatlichen Ratifizierungsverfahren weiterführen."

Auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier äußerte sich in diesem Sinne. Die Ablehnung des Lissabonvertrages in Irland sei ein schwerer Rückschlag. "Trotzdem bin ich überzeugt, dass wir diesen Vertrag brauchen. Einen Vertrag, der Europa demokratischer, handlungsfähiger und transparenter macht", erklärte Steinmeier. "Deswegen halten wir an unserem Ziel fest, ihn in Kraft zu setzen."

Die Slowenen, die im Moment die EU-Ratspräsidentschaft innehaben, haben den irischen Regierungschef Brian Cowen aufgefordert, beim EU-Gipfeltreffen am 19. und 20. Juni in Brüssel die Gründe für das Scheitern das EU-Referendums zu erläutern. "Wir werden über die Lage diskutieren und über Wege, wie man weiter kommen kann", erklärte der slowenische Premierminister Janez Jansa.

Irland ist das einzige EU-Land, das das Volk über den Vertrag von Lissabon abstimmen ließ. Wenn sich das Nein der Iren bestätigt, hätte ein Land mit gut vier Millionen Einwohnern das erneuerte politische Fundament für 490 Millionen Europäer vorerst zu Fall gebracht. Denn der EU-Reformvertrag kann nur in Kraft treten, wenn alle 27 Mitgliedsländer ihn annehmen. In 18 Staaten - unter anderem in Deutschland - haben die Parlamente den Vertrag schon ratifiziert. Auch in den noch ausstehenden Ländern wurde mit einer reibungslosen Annahme gerechnet.

Bestürzung und Suche nach Auswegen

"Ich bin persönlich bestürzt", erklärte der französische Europaminister Jean-Pierre Jouyet. Als Ausweg aus einer drohenden Krise schlug Jouyet vor, den Geltungsbereich des Vertrags auf die 26 übrigen EU-Staaten zu beschränken und Irland eine Art Sonderabkommen anzubieten. Daher sollte der Ratifizierungsprozess in den anderen Ländern fortgesetzt werden, forderte er. Frankreich wird am 1. Juli die Ratspräsidentschaft der EU übernehmen.

Der Luxemburger Ministerpräsident Jean-Claude Juncker bedauerte den Ausgang des Referendums zutiefst, da der Vertrag eine Fortsetzung der europäischen Integration erlaubt hätte. Als einer der ersten Regierungschefs plädierte der Pole Donald Tusk dafür, dass der EU-Reformvertrag trotz des irischen Neins in Kraft treten solle. "Das Referendum in Irland disqualifiziert nicht den Vertrag", sagte Tusk.

Auch der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok sprach sich dafür aus, den Ratifizierungsprozess fortzusetzen. Keinesfalls dürften die Inhalte des Reform-Vertrags von Lissabon nun "neu aufgeschnürt" werden.

Der Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europaparlament (SPE), Martin Schulz, will im Falle einer Ablehnung in Irland den Erweiterungsprozess stoppen. Auf diese Weise könnte das EU-Parlament den Druck auf die Staats- und Regierungschefs erhöhen, eine Klärung über die Zukunft der Union herbeizuführen, erklärte Schulz in Brüssel.

CSU fordert Ende der Türkei-Verhandlungen

Als Reaktion auf das EU-Referendum in Irland forderte die CSU den Stopp weiterer EU-Beitritte und entsprechender Verhandlungen mit der Türkei. "Abgesehen von Kroatien ist jetzt auch für weitere EU-Beitritte die Tür erst einmal zu", sagte CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer in Berlin.

"Die Eröffnung neuer Verhandlungskapitel mit der Türkei zu diesem Zeitpunkt wäre absurd", fügte er hinzu. Für Ramsauer ist der Reformvertrag von Lissabon mit der Ablehnung durch Irland gescheitert: "Für Europa heißt es nun, umzudenken. Große Reformentwürfe wie die Verfassung oder der Vertrag von Lissabon sind in der nächsten Zeit nicht zu machen."

"Dritte schallende Ohrfeige"

Schockiert und enttäuscht reagierten die Grünen in Deutschland. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Jürgen Trittin und der europapolitische Sprecher Rainer Steenblock erklärten: "Das ist nach dem französischen und niederländischen Nein die dritte schallende Ohrfeige für die ewige Regierungs-Hinterzimmer-Politik der Staats- und Regierungschefs, die diesen Vertragswerken zu oft vorausging".

Der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Werner Hoyer warnte: "Keinesfalls dürfen wir uns aber auf einen europapolitischen Kuhhandel einlassen, der die Ergebnisse von Lissabon weiter verwässert. Und es ist auch keine Option, dass wir die Zustimmung der Iren teuer erkaufen".

Französische EU-Skeptiker, Attac und Linkspartei feiern das Nein

Während Politiker in ganz Europa entsetzt über den Abstimmungsausgang sind, feiern besonders EU-Skeptiker das Ergebnis. Das "Nein" sei eine "gute Nachricht für alle europäischen Völker", erklärte die Kommunistische Partei in Frankreich. "Die Entscheidung des irischen Volkes ist eine Entscheidung des Mutes und der Hellsichtigkeit." Für den Trotzkisten Olivier Besancenot ist der Lissabon-Text jetzt "endgültig tot und begraben". Der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen sprach von einem "wunderbaren Sieg des irischen Volkes".

Das globalisierungskritische Netzwerk Attac sieht in einem Nein der Iren eine Chance für Kurskorrekturen in der Europäischen Union. "Der Vertrag hätte die neoliberale Schlagseite der Europäischen Union auf Kosten der Mehrheit der europäischen Bürgerinnen und Bürgern für lange Zeit festgeschrieben sowie die weitere Militarisierung der EU vorangetrieben", sagte der Sprecher der EU-Arbeitsgemeinschaft von Attac Deutschland, Gerold Schwarz.

Die Linksfraktion im Bundestag sieht den Lissaboner EU-Vertrag als gescheitert an. Der europapolitische Sprecher Diether Dehm erklärte in Berlin: "Das Nein aus Irland ist ein klarer Auftrag an die Regierungen in der EU, die Ratifizierung der EU-Verträge zu stoppen und den EU-Vertrag völlig neu zu verhandeln." Alle Vorwürfe an die Wähler in Irland zeigten lediglich das fehlende Demokratieverständnis der politisch Verantwortlichen, meinte er. Die Iren hätten Nein gesagt, weil ihnen der neue Vertrag zu Recht als unsozial erschien. Die Europäische Union brauche einen Vertrag, der - so wie das Grundgesetz - von einem Angriffskriegsverbot und der Sozialstaatlichkeit geprägt sei.

"Nicht wirklich demokratisch"

Die Grünen im Europaparlament stellten dagegen den Sinn von Volksabstimmungen über Europathemen in Frage. "Es ist nicht wirklich demokratisch, dass weniger als eine Million Bürgerinnen und Bürger über das Schicksal von fast einer halben Milliarde entscheiden können", erklärte der Ko-Fraktions-Chef Daniel Cohn-Bendit.

Der Reformvertrag von Lissabon war im vergangenen Jahr nach schwierigen Verhandlungen unterzeichnet worden, nachdem der EU-Verfassungsentwurf 2005 an Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert war. Die Iren hatten bereits 2001 den Vertrag von Nizza abgelehnt.

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