Süddeutsche Zeitung

Ergebnis der Shell-Jugendstudie:Krawatte statt Krawall

  • Die Shell-Jugendstudie hat ergeben, dass Tugenden wie Fleiß und Ehrgeiz eine stärkere Bedeutung haben als in früheren Jahren.
  • Generationenkonflikte zwischen Jugendlichen und ihren Eltern gibt es kaum noch.
  • Die Jugendlichen, die zur unteren Schicht gehören, sind in Bezug auf ihre Berufswünsche weit pessimistischer als diejenigen aus der Mittelschicht.

Von Ulrike Nimz

Das Lamento über die Verderbt- und Verlorenheit der Jugend ist altbekannt. Mindestens so alt und bekannt wie Aristoteles. "Unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen", das waren Attribute, die dieser wählte, um die Adoleszenten im vierten Jahrhundert vor Christus zu beschreiben. Die Denker von heute gehen da glücklicherweise differenzierter zu Werke. Alle drei bis fünf Jahre fragt die Shell-Jugendstudie nach den Befindlichkeiten der Zwölf- bis Fünfundzwanzigjährigen, nach politischer Einstellung, Zukunftsperspektiven, Freizeitgestaltung.

Zur Empörung jedoch gibt diese Jugend keinen Anlass mehr. In der 17. Auflage der Untersuchung präsentiert sich der deutsche Nachwuchs pragmatisch, mit fest gefügtem Wertesystem. Tugenden wie Fleiß und Ehrgeiz sind den meisten jungen Menschen wichtiger, als "kreativ zu sein" oder "das Leben zu genießen". Eine Mehrheit hat Vertrauen in Institutionen wie die Polizei, die Gerichte und auch die Bundeswehr. 84 Prozent nehmen den Respekt vor Gesetz und Ordnung wichtig, 64 Prozent sogar besonders wichtig.

Nur ist selbst diese wohlerzogene und wohlgestimmte Jugend nicht davor gefeit, in Ungnade zu fallen. In den vergangenen Jahren war in den Feuilletons der Republik immer wieder von "neuen Spießern" zu lesen. Zwischen den Zeilen klang diese leise Wehmut an, die das Alter eben mit sich bringt: Damals brannten Barrikaden - und heute? Brennt's nur noch beim Wasserlassen.

Diese Jugend lernte früh, die Falltür Hartz IV zu fürchten

Das Klischee von Jugend und Rebellion, sagt Klaus Hurrelmann, ist ein Relikt der 68er-Bewegung. Der Sozialwissenschaftler, 1944 geboren, aufgewachsen im Wirtschaftswunderland Deutschland, ist seit 2002 einer der Leiter der Shell-Jugendstudie und hat für Pauschalurteile wenig übrig. "Eine politische Haltung reflektiert immer die tatsächlichen Lebensbedingungen", sagt er. Wirft man einen Blick auf diese, löst sich so manches Rätsel. Man habe es mit einer Jugend zu tun, die die Folgen des 11. September 2001 erlebte, die Finanz- und Euro-Krise, und die Jugendarbeitslosigkeit, sagt Hurrelmann.

Während der Soziologe Ulrich Beck in den 80er-Jahren noch vom Fahrstuhleffekt sprach, der seit 1945 eine ganze Gesellschaft auf ein nie da gewesenes Wohlstandsniveau gehoben hatte, lernte diese Jugend früh, die Falltür Hartz IV zu fürchten. Noch 2006 präsentierte die Shell-Studie eine Generation, gezeichnet von Leistungsdruck und Abstiegsangst. Die immerhin hat abgenommen. Weil der wirtschaftliche Niedergang überwunden scheint. Die Mär vom unbegrenzten Wachstum aber auch.

Die Jugend von heute glaubt wieder daran, ihre Berufswünsche verwirklichen zu können - wenn sie sich entsprechend reinhängt. Und so streben die Jugendlichen nach höchstmöglichen Bildungsabschlüssen, scheuen weder Praktika noch Zeitverträge. Wenn von einer Ökonomisierung der Gesellschaft die Rede ist, dann lassen sich dafür auch im Bildungssystem Belege finden. Turboabitur und Bologna-Reform etwa. Mündigkeit und kritisches Denken, so beklagen es Pädagogen seit Jahren, sind weniger gefragt als Anpassung und Auswendiglernen. Darf es da verwundern, dass die Kids lieber Krawatte binden, statt Krawall zu machen?

Die Utopie einer freien, unbeschwerten Jugend ist als solche entlarvt. Und weil es so ganz ohne eben auch nicht geht, wird eine andere wiederbelebt: die Familie. Sie ist Konstante in einer krisengeschüttelten Welt. Eltern sind nicht länger nur Förderer, sondern auch Vertraute, manchmal sogar Freunde. Knapp drei Viertel der Befragten wollen sich den Erziehungsstil der eigenen Eltern zum Vorbild nehmen.

Rainald Grebe, Liedermacher und Kabarettist, hat dieses Phänomen in einem Song skizziert. In "Dreißigjährige Pärchen" sitzen Menschen bei selbst gemachtem Sushi zusammen und diskutieren über die Größe von Pfeffermühlen. "Wir wollten nie wie unsere Eltern werden / Und sind es ja auch nicht geworden / Wir werden ihre Häuser erben / Aber keine neuen bauen". Dahinter steckt die Frage: Wo kommen wir hin, wenn es schon Jugendlichen künftig genügt, das Leben ihrer Eltern zu reproduzieren? Was, wenn der Generationenkonflikt der Motor der gesellschaftlichen Evolution ist. Und was, wenn dieser Motor stottert?

Für Klaus Hurrelmann ist auch das kein Grund zur Besorgnis, sondern lediglich Folge in der Vergangenheit ausgetragener Kämpfe. Die Babyboomer, so nennt die Sozialwissenschaft die in den geburtenstarken Jahrgängen 1955 bis 1969 Geborenen, haben keinen Rohrstock im Schrank, kein faschistisches Regime gestützt. Sie haben hart gearbeitet und es zu (bescheidenem) Wohlstand gebracht. Längst reichen sie dem Nachwuchs die Hand, statt sie zu erheben.

Ungleichheit gab es immer, aber selten war das Spiel so früh entschieden wie heute

Junge Menschen sind heute von einer Gewissheit getragen: Selbst wenn alles schiefläuft, Mama und Papa sind da, um zu helfen - auch finanziell. "Allianz gegen den Absturz", nennt Hurrelmann das.

Doch spätestens hier bekommt die Utopie Risse. Denn nicht alle Eltern sind in der Lage, erst ein Nest zu bauen und dann ein Netz zu spannen. Vor allem im Osten, wo auch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht nur die Löhne, sondern auch die Rücklagen kleiner sind. Und so ist der unerschütterliche Optimismus, der die Macher der Studie so beeindruckt, Eigenheit der oberen Mittelschicht. In der unteren Schicht, wo niedriges Einkommen und niedriger Bildungsstand zusammenkommen, glaubt nicht einmal die Hälfte daran, dass sich die Berufswünsche erfüllen werden - in der obersten Schicht sind es 81 Prozent.

Gewinner und Verlierer gab es schon immer, aber selten war das Spiel so früh entschieden wie heute, auch das ist ein Ergebnis aus gut 60 Jahren Shell-Studie. Die Zahl der Schulabbrecher zu reduzieren, sei die Herausforderung der Zukunft, sagt Klaus Hurrelmann. Denn es sind diese Jugendlichen, die anfällig sind für radikale Denkmodelle, auch wenn sich die Mehrheit nicht von rechter Stimmungsmache beeinflussen lässt. Im Gegenteil: Zuwanderung halten die meisten Jugendlichen für "sinnvoll und moralisch geboten". Die Homo-Ehe ist kein Problem für sie. In dem Punkt ist die Studie nicht nur ein Korrektiv zum gefühlten Konservatismus, sondern auch für larmoyante Deutschland-schafft-sich-ab-Fantasien einer AfD.

Diese Jugend, da sind sich beteiligte Forscher einig, ist gerade durch ihre Anpassungsfähigkeit in der Lage, von sich reden zu machen. Am Ende ist auch aus den Schülern eines Aristoteles noch etwas geworden: Alexander der Große jedenfalls steht nicht im Verdacht, ein Nichtsnutz gewesen zu sein.

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Quelle:
SZ vom 14.10.2015/olkl
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