Erdoğans Gegner:Viele neue Feinde für die Türkei

Die Herrschenden in der Türkei verstehen es vortrefflich, Teile des eigenen Volkes zu gefährlichen Gegnern zu erklären. Die neuen Feinde sind überwiegend jung, gut gebildet und sehnen sich nach all den Freiheiten, die ihnen Regierungschef Erdoğan einst selbst versprochen hat. Doch wer überwiegend harmlose Demonstranten auf eine Stufe mit Putschisten stellt, der fühlt sich nicht stark, sondern schwach.

Ein Kommentar von Christiane Schlötzer, Istanbul

Eine türkische Volksweisheit sagt: Der einzige Freund des Türken ist der Türke. Ge- stimmt hat der Spruch nie wirklich. Die Türkei sah sich zwar lange Zeit umgeben von Feinden, aber sie suchte stets auch selbst Feinde im Inneren. Ob es die Kurden waren oder die religiösen Minderheiten - Armenier und orthodoxe Griechen -, immer wieder haben es die Herrschenden in der bald neunzigjährigen Geschichte der Türkischen Republik verstanden, Teile des eigenen Volkes zu gefährlichen Gegnern zu erklären, die es zu bekämpfen gilt: mit Gesetzen, Geheimdiensten, Polizei, Armee, Justiz, Landesverweis, Rufmord und Mord.

Auch Premier Recep Tayyip Erdogan und seine konservativ-islamische Machtelite haben vor ihrem Aufstieg erlebt, was es heißt, das Etikett des Staatsfeinds zu tragen. Sie haben Verachtung und Verfolgung am eigenen Leib erlitten. Der Demokratisierungsschub, den die Türkei in den ersten Jahren der Regierung Erdogan erlebt hat, rührt auch aus dieser Erfahrung. Folterverbot, Meinungsfreiheit, die völlige Abschaffung der Todesstrafe, die Anerkennung der kurdischen Kultur, die Einhegung der Macht des Militärs, eine neue Außenpolitik - all das stand auf der Agenda von Erdogans Partei AKP.

Als der Prozess begann, gab es viel Applaus für Regierung

Ermutigt durch diese Umwälzungen, wagten mehrere Staatsanwälte im Jahr 2007, als die AKP-Regierung im Zenit ihrer Macht stand, den Angriff auf den "tiefen Staat" - ein graues Ungetüm, von dem jeder sprach, doch das keiner kannte. Gemeint war jenes Netzwerk aus Ultranationalisten in den Geheimdiensten, im Militär, in Gendarmerie, Gerichten und der höheren Beamtenschaft, das sich mit Kriminellen gemein machte. Nur selten zeigte diese Hydra einen ihrer Köpfe, wie beispielsweise bei einem Autounfall in Susurluk im Jahr 1996. In dem Unfallwagen starben ein Polizeidirektor aus Ankara sowie ein verurteilter Drogenhändler und mutmaßlicher Auftragskiller, der einen vom damaligen Innenminister unterzeichneten Pass bei sich trug.

Erst gut zehn Jahre später, nach einem Waffenfund bei Nationalisten in Istanbul, begannen die sogenannten Ergenekon-Ermittlungen, die zu dem - jetzt beendeten - fünfjährigen Großprozess mit fast 300 Angeklagten führten. Ergenekon ist die mythische Heimat der Türken in Zentralasien. Ein Geheimbund mit diesem Namen soll sich gegen die Regierung Erdogan verschworen haben, mit politischen Morden sollte der Boden für einen Putsch bereitet werden.

Nach "Gezi" hat die Türkei viele neue Feinde

Als der Prozess begann, gab es viel Applaus für Regierung und Justiz von liberalen Kommentatoren in der Türkei, EU-Politiker zeigten sich beeindruckt. Je länger aber das Verfahren dauerte, desto größer wurde die Kritik, nicht nur von den Verteidigern der vielen angeklagten Ex-Offiziere. Die Beweislage blieb oft undurchsichtig, was es nun schwer macht, die Berechtigung der zum Teil hohen Haftstrafen zu beurteilen. Bei einigen Angeklagten ist die Sache allerdings klar: Veli Küçük, der Gründer des skrupellosen Gendarmerie-Geheimdienstes Jitem, bekam lebenslänglich. Der Ex-General gilt als Verantwortlicher für viele unaufgeklärte Morde. Auch Mafiaboss Sedat Peker bekam wohl zu Recht zehn Jahre Haft.

In Misskredit geriet das juristische Vorgehen gegen den "tiefen Staat" aber auch wegen immer neuer Verhaftungswellen, die sich gegen Oppositionspolitiker, journalistische Kritiker des Ergenekon-Verfahrens und bislang untadelige Professoren richteten. Nicht in jedem Fall wurde Anklage erhoben. Aber es entstand so der Verdacht, der "Jahrhundertprozess" werde gleichsam zur Generalabrechnung mit Kritikern Erdogans genutzt.

All das geschah vor der jüngsten Protestwelle gegen Erdogan und seine Regierung - "vor Gezi" also, wie in der Türkei nun die Zeit vor den landesweiten Demonstrationen heißt, die auf die brutalen Polizeieinsätze gegen ein paar Istanbuler Grünflächenschützer folgten. "Nach Gezi", so behauptet jedenfalls der Regierungschef, hat die Türkei auf einmal viele neue Feinde. Und wieder einmal sind es innere Feinde. Sie sind überwiegend jung, gut gebildet, waren mehrheitlich bislang unpolitisch und sehnen sich nach all den Freiheiten, die ihnen Erdogan einst selbst versprochen hat.

Nun werden diese jungen Leute von der Regierung zu "Terroristen" erklärt, und die Justiz leistet Beistand. Ein Staatsanwalt hat jüngst bis zu drei Jahre Haft für 35 Teilnehmer an der Beerdigung eines von einem Polizisten erschossenen Demonstranten gefordert. So verrutschen die Maßstäbe: Wer den Terror des "tiefen Staates", über den das türkische Gericht in Silivri am Montag urteilte, und überwiegend harmlose Demonstranten auf eine Stufe stellt, der fühlt sich nicht stark, sondern schwach.

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