Türkei:Erdoğan - es darf nur einen geben

Seine Anhänger nennen ihn "Reis", Anführer. Seine Gegner werfen ihm eine "Ein-Mann-Herrschaft" vor. Wie Recep Tayyip Erdoğan wurde, was er ist.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Es sind noch nicht alle Stimmen gezählt, und die Opposition spricht von "Manipulationen", aber Recep Tayyip Erdoğan erklärt sich schon zum Wahlsieger. "Die Nation hat mir die Verantwortung der Präsidentschaft anvertraut", erklärt der 64-Jährige in der Nacht zum Montag im Fernsehen, im Hintergrund das Präsidentenwappen, ein Kreis gelber Sterne und eine Sonne in der Mitte.

Vor der Istanbuler Residenz des Staatspräsidenten feiern seine Anhänger, mit türkische Fahnen und Hupkonzerten. Später, weit nach Mitternacht, bestätigt die Wahlkommission: Der Präsident muss nicht in die Stichwahl, verteidigt sein Amt mit absoluter Mehrheit.

Am Samstag, in der Istanbuler U-Bahn, weniger als 24 Stunden vor Öffnung der Wahllokale, erscheint ein viel jüngerer Erdoğan auf den Flachbildschirmen in jedem Waggon. Als Bürgermeister der Stadt, in den Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts. Dann sieht man in dem Video Menschen mit Plastikkanistern in den Händen, die Schlange stehen vor Tanklastwagen, die ihnen Wasser bringen. Danach Bilder von großen Wasserhähnen. Die Botschaft: Ich, Erdoğan, habe euch das Wasser ins Haus gebracht.

Das war kein bezahlter Wahlwerbespot der Erdoğan-Partei AKP, aber Wahlhilfe der Istanbuler AKP-Stadtverwaltung. Erdoğans Leute nutzten viele Wege, um das Wahlvolk zu umgarnen. Flüsterpropaganda gehörte auch dazu. Die lautete zuletzt: "Es gibt keinen zweiten Erdoğan." Das sollte heißen, ein Politiker, der den sunnitisch-religiösen Türken ihren Lebensstil lässt, samt Kopftüchern in Amtsstuben und im Parlament. In der Vor-Erdoğan-Türkei war dies verboten.

Die gläubige Mittelklasse ist seine Basis

Erdoğan hat einer gläubigen Mittelklasse den Aufstieg ermöglicht, sie ist seine treueste Klientel, denn sie fürchtet, ihre Privilegien wieder zu verlieren - wenn die Macht auf die andere Seite der Gesellschaft wandert, die säkulare, die früher lange die politische und wirtschaftliche Elite stellte.

Erdoğan selbst ist ein Aufsteiger, er wurde 1954 im Istanbuler Hafenviertel Kasımpaşa geboren, das heute noch ein Bezirk mit viel Armut ist. Der Vater stammte von der Schwarzmeerküste, war Seemann und migrierte nach Istanbul, er war streng und religiös. Das Verhältnis zur Mutter soll enger gewesen sein und den Sohn besonders geprägt haben. Der war schon früh sehr religiös. Er besuchte ein Prediger-Gymnasium und studierte dann an einer Wirtschaftakademie. Der Wert des Diploms, das er dort 1981 erwarb, wird heute von der Opposition angezweifelt - Staatspräsidenten in der Türkei sollen einen akademischen Grad haben.

Seinen Überlebensinstinkt und die Fähigkeit, wie ein Boxer einzustecken und wieder aufzustehen, schulte er aber ohnehin nicht an einer Universität. Sondern auf den Straßen des Heimatviertels, wo es ziemlich rau zuging. 1978 heiratete er Emine, die ein strenges Kopftuch trägt. Das Paar hat vier Kinder.

Den beiden Töchtern Esra und Sümeyye, die in den USA studierten, traut der Vater offenbar mehr zu als den Söhnen. Sümeyye war lange seine Beraterin, Esra ist seit 2004 mit Berat Albayrak verheiratet, der war zuletzt Energieminister. Manche in der AKP ärgern sich schon, dass Erdoğan ihn womöglich zu einem Nachfolger aufbauen möchte. In Istanbul überließ er ihm seinen früheren Platz auf der AKP-Liste.

Wie Phönix aus der Asche

Politisch war Erdoğan zuerst in der Partei des Islamisten Necmettin Erbakan aktiv. Die religiösen Parteien wurden in der Türkei immer wieder verboten. 1998 wurde er nach der Rezitation eines nationalistisch-religiösen Gerichts (Minarette sind unsere Bajonette ... Moscheen sind unsere Kasernen) wegen Aufstachelung der Bevölkerung zu Hass und Feindschaft zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Im März 1999 trat er die Strafe an und wurde nach vier Monaten wieder aus der Haft entlassen.

Danach setzte sich Erdoğan von seinem islamistischen Ziehvater ab. Die AKP, die er dann mit seinem damaligen Weggefährte Abdullah Gül im August 2001 gründete, sammelte die Reformer im Lager der Religiösen. Der Erfolg kam mit der Wahl 2002. Wegen der tiefen politischen und finanziellen Krise, in die das Land zuvor geraten war, stieg die AKP wie Phönix aus der Asche als frische politische Kraft auf.

Sie beeindruckte anfangs auch Wähler weit über das religiöse Lager hinaus, und das durch Tabubrüche: es gab viele Reformen im Sinne der EU, das Militär wurde aus der Politik zurückgedrängt, Ankara suchte eine Verständigung mit Armenien, Erdoğan ging auf die Kurden zu. 2004 wurde er zum "Europäer des Jahres" gekürt.

Erlahmtes Interesse an Reformen

Istanbul entwickelte sich mit Hochhauskulisse und einer überraschend lebendigen kulturellen Kreativszene zum "New York des Ostens". Der wirtschaftliche Aufschwung war enorm: Im ersten Erdoğan-Jahrzehnt verdreifachte sich das statistische Pro-Kopf-Einkommen.

Im Oktober 2005 wurden Beitrittsverhandlungen mit der EU eröffnet. Bald danach aber zeigte Erdoğan immer weniger Interesse an Reformen, auch die EU trieb, gebremst von Zypern, die Verhandlungen nicht voran. 2013 wurde das Ausland aufmerksam, als Bürgerproteste gegen Erdoğans Politik sich ausgehend von Istanbul fast im ganzen Land ausbreiteten. Sie wurden teils mit heftiger Gewalt niedergeschlagen.

Danach wurden Korruptionsvorwürfe gegen Erdoğans enges Umfeld laut. Erdoğan sprach schon damals von einem "Putschversuch" gegen ihn und beschuldigte das Netzwerk des Prediger Fethullah Gülen, die Justiz zu manipulieren. Für den Putschversuch im Juli 2016 machte Erdoğan dann auch Gülen-Kader in der Bürokratie und im Militär verantwortlich. Dass der Drahtzieher dieses Putschversuchs tatsächlich der in den USA lebende 77-jährige Gülen war, der dies bestreitet, glauben in der Türkei auch viele von Erdoğans Gegnern.

In der Türkei hat es schon mehrere blutige Putsche und Putschversuche gegeben. Ein Opfer dürfte Erdoğan besonders in Erinnerung sein, auch wenn er damals noch ein Kind war: 1961 wurde Adnan Menderes von Putschisten gehängt, er war zehn Jahre lang Ministerpräsident, auch er war ein konservativer Mann. Erdoğans Eltern verehrten Menderes, sein Tod war ein Schock. Erdoğan hat bei öffentlichen Auftritten immer wieder an Menderes erinnert.

Er traut der eigenen Familie am meisten

Erdoğan gilt als äußerst misstrauisch, er hat viele frühere Berater weggeschickt. Er soll sich, so erzählen auch AKP-Leute, inzwischen vor allem mit Bewunderern und unkritischen Jasagern umgeben, am meisten traue er seiner Familie, heißt es.

Im Wahlkampf wirkte er bisweilen zerstreut, und wenn er die Zuhörer müde redete, forderte er sie schon mal auf, sich doch zu erheben und zu klatschen.

Erdoğan hat das Land mit seiner Politik tief gespalten, das wird auch diese Wahl nicht ändern. Seine Anhänger nennen ihn "Reis", Anführer. Seine Gegner werfen ihm vor, mit einer "Ein-Mann-Herrschaft" die Gewaltenteilung und letztlich die Demokratie in der Türkei abschaffen zu wollen.

Nun aber ist Erdoğans Kalkül noch einmal aufgegangen. Er hat die Wahlen vorgezogen, weil er seine Macht schwinden sah. Und er sich hat mit hohem Einsatz - in einem Wahlkampf mit ungleichen Chancen allerdings - erneut die Macht gesichert.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: