Der Präsident scheint sehr genau zu wissen, was die türkische Justiz plant. Da komme „noch mehr“, sagte Recep Tayyip Erdoğan am Wochenende. Was er meinte, waren die Ermittlungen gegen die Opposition. Kürzlich hatten die Behörden in Istanbul einen wichtigen Bezirksbürgermeister verhaften und suspendieren lassen, ein Mitglied der oppositionellen CHP. Wegen angeblicher Korruption, die der Beschuldigte bestreitet.
Er war schon der Zweite. Ende Oktober hatte es den Rathauschef eines anderen Bezirks getroffen, auch in Istanbul, auch einen CHP-Mann. Bei ihm hieß es, er habe Verbindungen zur kurdischen PKK-Miliz. Und diese Woche dann, zwei Tage nach Erdoğans Warnung, aß ein Oppositionspolitiker gerade in einem Restaurant in Ankara zu Abend, als er Besuch von der Polizei bekam.
Haftgründe wie „Aufstachelung der Öffentlichkeit zu Hass“
Ümit Özdağ gehört zwar nicht zur CHP, er führt eine kleinere, nationalistische Partei. In der Türkei ist er aber prominent, auch weil er weit rechts steht und trotzdem in Gegnerschaft zum Präsidenten, dies vor allem wegen der syrischen Geflüchteten im Land. Özdağ sagte, „in tausend Jahren“ habe kein Kreuzzug der Türkei „so viel Schaden zugefügt wie Erdoğan unserer Nation“. Für die Staatsanwaltschaft war das ein klarer Fall von „Aufstachelung der Öffentlichkeit zu Hass“.
Die türkische Opposition dagegen versteht es, wie Erdoğan es wohl verstanden haben will: Als Signal, dass er notfalls auch die Justiz dafür einsetzt, damit seine Gegner ihm nicht gefährlich werden. Und damit ihm hilft, noch ein paar weitere Jahre an der Macht zu bleiben.
Ekrem İmamoğlu, der Istanbuler Oberbürgermeister, auch ein CHP-Mitglied, unterstellte dem Präsidenten eine Obsession. Der Präsident gehe mit dem Gedanken an die Opposition ins Bett und stehe mir ihr auf, sagte İmamoğlu, und mit dem Generalstaatsanwalt sei es genauso: „Er denkt Tag und Nacht an uns.“ Es vergingen ein paar Minuten, İmamoğlu stand noch auf der Bühne, da leitete die Staatsanwaltschaft schon ein Verfahren gegen ihn ein: Er habe soeben Mitglieder der Justiz angegriffen.

İmamoğlu ist ohnehin schon verurteilt, wegen eines ähnlichen Vorwurfs, einige Jahre alt. Sollte das Urteil rechtskräftig werden, was jederzeit möglich wäre, hieße das für ihn Politikverbot. Dass er zu den beliebtesten Oppositionspolitikern des Landes gehört und Ambitionen aufs höchste Amt hat, das weiß natürlich auch der Präsident.
Der scheint sich gerade in einer Art Doppelstrategie zu versuchen. Das eine ist, dass er einen neuen Friedensprozess mit den Kurden angestoßen hat. Das andere ist das juristische Vorgehen gegen die Opposition, vor allem gegen die CHP. Es soll die Partei diskreditieren. Dass an den Korruptionsvorwürfen etwas dran ist, mögen viele Wählerinnen und Wähler zwar nicht glauben, dennoch spricht das Land darüber. Und Erdoğan dürfte zufrieden damit sein, dass sich nur wenige Menschen finden, die für die Verhafteten auf die Straße gehen. Auch ein Test dafür, wie die Öffentlichkeit reagieren würde, sollte es einmal um die Freiheit von Ekrem İmamoğlu selbst gehen.
Nach jetziger Verfassungslage dürfte Erdoğan nur bei Neuwahlen wieder antreten
Der Präsident ist dabei, die politische Landschaft zu sortieren. Es geht um eine nächste Amtszeit, und noch hat er damit Zeit, bis zum regulären Wahltermin sind es mehr als drei Jahre. Bis dahin allerdings muss er einen Weg finden: Die Verfassung untersagt ihm eine erneute Kandidatur. In der Türkei ist es ein offenes Geheimnis, dass Erdoğan, der das Land seit mehr als zwei Jahrzehnten dominiert, sich für eine historische Figur hält. Regeln wie jene, dass einem Präsidenten nur zwei Amtszeiten zustehen, wirken da kleinlich.
Sein Problem ist, dass er es beim Gewinnen von Mehrheiten nicht mehr so einfach hat. Laut Pew Research halten ihm noch 43 Prozent der Türkinnen und Türken die Treue. Bei der Wahl 2023 musste er in die Stichwahl, bei den Kommunalwahlen vor einem Jahr erlitt er eine demütigende Niederlage. Es geht also um neue Allianzen, neue Trennlinien: wer mit wem? Vielleicht mithilfe der kurdischen Stimmen eine neue Verfassung, die ihm beim Wunsch nach einer lebenslangen Präsidentschaft entgegenkommt? Oder, und darauf könnte es hinauslaufen, vorgezogene Neuwahlen?
Mit 60 Prozent der Stimmen im Parlament könnten die stattfinden, und bei ihnen dürfte Erdoğan wieder antreten. Die Parlamentsmehrheit wäre kein Problem, genau das nämlich, vorzeitige Wahlen, fordert die CHP nun besonders laut. Erdoğan wird sich davon nicht treiben lassen, die Umfragen zeigen, dass die CHP ihr Momentum seit den Kommunalwahlen wieder verliert. Und auf die Partei kommt die Frage zu, ob sich İmamoğlu als Präsidentschaftskandidat durchsetzen kann, trotz parteiinterner Gegner und der Gefahr, dass ihn die Justiz aus dem Rennen nimmt.
İmamoğlu könnte zwar, dank seines Charismas, die Menschen begeistern. Auch er aber hätte es als Kandidat mit einem Dilemma zu tun: Er müsste Erdoğan einen Autokraten nennen und die Wähler zugleich überzeugen, dass dieser sich von einer Wahl aus dem Amt drängen ließe. Ein Präsident, der nur seinen Justizminister anrufen müsste, und ihn bitten, İmamoğlus Karriere zu beenden.
Ein Kommentator von T24, einem der letzten unabhängigen Medien, verglich die Situation gerade schon mit der Lage in Russland oder Iran. Dort, wo „das Regime“ entscheide, wer bei Wahlen antreten darf und wer nicht. Ausgeschlossen sei dann, „wen das Regime nicht gutheißt“.