Erdoğan nach Kommunalwahl in Türkei:Meister der Klientelpolitik

Wir gegen die: Türkeis Premier Erdoğan triumphiert nach der Kommunalwahl. Wie kann es sein, dass die Bürger trotz zahlreicher Skandale den Kurs der AKP-Regierung bestätigen? Die Antwort liegt in der Art, wie Erdoğan Politik macht.

Von Hakan Tanriverdi

Die Liste der Vorwürfe gegen Recep Tayyip Erdoğan ist lang: Es geht um Millionensummen in Schuhkartons, illegale Geldgeschäfte, die Zensur der Presse, Eingriffe in die Justiz und um Agenten, die Raketen von Syrien aus auf türkisches Brachland abfeuern sollen, um einen Militärschlag der Türkei zu rechtfertigen. Seit dem 17. Dezember taumelt der Premierminister von einem Großskandal in den nächsten.

"Nur die Hälfte dieser Vorwürfe würde in jedem anderen demokratischen Land dazu führen, dass die Regierung kollabiert", kommentiert die englische Ausgabe der Tageszeitung Hürriyet die Situation. Mitten in dieser turbulenten Zeit erklärt Erdoğan die Kommunalwahlen zum Referendum um seine Politik - und seine Partei erhält 45,6 Prozent der Stimmen.

Wie kann das sein?

Zunächst ist eine Frage zu klären: Hat die AKP, die Partei von Erdoğan, nun Stimmen gewonnen oder verloren? Das hängt vom Blickwinkel ab. Verglichen mit der letzten Kommunalwahl im Jahr 2009 hat sich die Partei verbessert: Damals lag das Ergebnis bei 39 Prozent. Aber wenn man Erdoğan beim Wort nimmt und die Wahl als eine Entscheidung über den Kurs der Regierung betrachtet, ergibt es mehr Sinn, das Ergebnis mit den Parlamentswahlen 2011 zu vergleichen. Die Zahl von damals: 49,9 Prozent. So gesehen hat Erdoğan eine Niederlage erlitten - die fällt mit vier Prozentpunkten zwar moderat aus, aber sie ist sichtbar.

Die Skandale kamen in Form von Audio-Mitschnitten. Millionen Türken hörten unter anderem angeblich die Stimmen von: Erdoğan selbst, seinem Sohn Bilal, dem Justizminister, dem Geheimdienstchef Hakan Fidan und dem Außenminister Davutoğlu. Kurioserweise wurde die Echtheit sämtlicher Mitschnitte bestätigt - wobei immer nachgeschoben wurde, dass Teile "verfälscht" seien. Nur in einem Fall hat der Premier vehement bestritten, dass die Aufnahmen echt seien: bei einem brisanten Audiomitschnitt, in dem Erdoğan seinen Sohn dazu auffordern soll, Millionenbeträge aus dem Haus zu schaffen.

Erdoğans Erfolg basiert auf einer zweigleisigen Klientelpolitik: Religion und Ökonomie. In beiden Teilbereichen weist er klar benennbare Erfolge auf. Das türkische Wirtschaftswachstum hat sich zwar deutlich abgeschwächt, aber die Türkei hat diesbezüglich einen Erfolgsmarathon hinter sich. 2010 und 2011 lag das Land in Sachen Wirtschaftswachstum auf Platz zwei hinter China. Diese Entwicklung hat vielen Menschen in der Türkei zu bescheidenem Reichtum verholfen. Ein Wohlstand, der sich nicht zuletzt im Stadtbild von Istanbul und Ankara widerspiegelt - in den Vororten wohnen viele Erdoğan-Anhänger (diese Karte zeigt, dass die AKP vor allem im Landesinneren großen Rückhalt hat).

In Sachen Religion wurden Imam-Hatip-Schulen, die islamische Religionsgelehrte ausbilden, in ihrer Stellung aufgewertet. Kopftuchtragende Frauen sind nun viel präsenter und auch in öffentlichen Ämtern und Schulen zu sehen, AKP-Politikerin Fatma Toru ist die erste Bürgermeisterin mit Kopftuch.

Erdoğan hat aus diesen beiden Aspekten erfolgreich ein "Wir gegen die"-Gefühl kreiert (ein Hintergrundgespräch zur Lage in der Türkei lesen Sie in dieser Gesprächsrunde im SZ-Magazin). Wir, das sind die AKP-Wähler. Die, das sind alle anderen: Die Protestierenden im Gezi-Park, die Gülen-Bewegung oder die "Zinslobby", wie Erdoğan sie nennt, die der türkischen Wirtschaft schaden will. Und da sind natürlich die Medien, die nur schlecht über Erdoğan schreiben würden, die sozialen Netzwerke wie Twitter und Youtube, auf denen nur Lügen verbreitet würden - und deshalb blockiert werden.

Soziale Netzwerke sprechen von sabotierten Wahlen

Dazu kommt die Situation der Medien. Nirgends hat sich das so deutlich gezeigt wie während der Auszählung am Sonntagabend. Die Medienagentur Anadolu steht der AKP nahe - und sieht in der Hauptstadt Ankara vor allem die Erdoğan-Partei vorne. Genau zeitgleich berichtet Cihan Haber von einem Vorsprung der kemalistischen CHP - diese Agentur soll der Gülen-Bewegung treu sein. Asli Tunc, Professorin für Medienwissenschaften an der Bilgi-Universität, fasst die Situation in einem Tweet zusammen: "Diesem Land fehlt eine unabhängige Nachrichtenquelle"

Die jetzige Situation ist nur ein Etappensieg in einem anhaltenden Informationskrieg: Erdoğan kann mehrere Medienanstalten offen als parteiisch attackieren. Das ist so gewesen im Fall der türkischen Zeitung Zaman, die den Gülenisten nahesteht, aber auch bei Tageszeitungen wie Hürriyet und Radikal, die zur Doğan Media Group gehören - eben jenes Medienunternehmen, bei dem Erdoğan Druck auf den Justizminister ausgeübt hat.

In einem solchen Umfeld, in dem die Medien Erdoğan und Erdoğan die Medien beschuldigt, hat der Premierminister das "Wir gegen die"-Gefühl erfolgreich einsetzen können. Doch dieser Wahlsieg ist teuer erkauft. Das Land ist so tief gespalten wie lange nicht mehr. Deutlich zeigt sich das, wenn man die sozialen Netzwerke betrachtet.

Dort heißt es in unzähligen Berichten, dass die Wahl in wichtigen Städten wie Ankara offen sabotiert wurde. Die Rede ist von Stromausfällen, von vorgefertigen Wahlzetteln, von Menschen, die bei "falscher Stimmabgabe" verprügelt wurden. Auf der Seite "2014 Secim" werden knapp 300 Fälle von Wahlbetrug festgehalten - der Großteil wird aber als "unverifiziert" ausgewiesen. Laut Informationen von Today's Zaman soll die CHP in Ankara bei der Staatsanwaltschaft Klage eingereicht haben.

Erdoğans Taktik ist es nun, sich weiterhin eng an seine Wähler zu klammern, sie zum Zusammenhalt zu beschwören, anstatt den Dialog mit der Opposition zu suchen. Direkt nach seinem Sieg hat Erdoğan eine Rede gehalten. Dort attackierte er seine politischen Gegner mit den Worten: "Ihr werdet bezahlen".

Denn hinter der Entscheidung, diese Wahl als Referendum über seine Politik zu veranstalten, steckt Kalkül. In der Türkei finden in diesem August Präsidentschaftswahlen statt. Beobachter gehen davon aus, dass Erdoğan sich als Kandidat aufstellen lassen will. Der Machtkampf in der Türkei wird also weitergehen - von Aussöhnung keine Spur.

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