Süddeutsche Zeitung

Deutsch-türkische Beziehungen:Warum die Bundesregierung ihren Unmut über Erdoğan im Zaum hält

  • Viele Deutsche schauen sehr kritisch auf den dreitägigen Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Erdoğan in Deutschland.
  • Auch die Kanzlerin und der Bundespräsident ärgern sich noch immer über die Aggressionen aus Ankara in den vergangenen zwei Jahren.
  • Trotzdem herrscht in Berlin die Hoffnung, Erdoğan erläutern zu können, dass Gesten der Entspannung unverzichtbar für eine bessere Basis der Zusammenarbeit sind.

Von Stefan Braun, Berlin

Natürlich kann man mit harschen Worten gegen Recep Tayyip Erdoğan immer mächtig Punkte sammeln. So war das, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der ersten Rede nach seiner Wahl das antidemokratische Gebaren seines türkischen Kollegen geißelte. Und so ist es am Donnerstag wieder, als sich zahlreiche Bundestagsabgeordnete verbal den türkischen Präsidenten vornahmen. Der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff verlangte unter dem Beifall fast aller Fraktionen im Bundestag, Erdoğan müsse zur Demokratie zurückkehren und die Haft für alle politischen Gefangenen beenden. "Lassen Sie diese Menschen frei, lassen Sie freie Debatte in der Türkei wieder zu!"

Noch schärfer im Ton gab sich Sevim Dağdelen von der Linkspartei. Sie hatte das türkische Staatsoberhaupt vor Tagen als "Terrorpaten" bezeichnet und warnte nun davor, gegenüber einem solchen "Polarisierer" Zugeständnisse zu machen. Sie jedenfalls werde auf keinen Fall zum Staatsbankett am Freitagabend kommen. Ähnlich hatten sich zuvor auch die Parteivorsitzenden von FDP und Grünen, Christian Lindner und Robert Habeck, eingelassen.

Das Bild von Erdoğan in Deutschland - es scheint unverrückbar zu sein. Kaum einer verliert ein gutes Wort, alle reden mit Zorn in der Stimme. Und die meisten schauen deshalb auch sehr kritisch auf den dreitägigen Staatsbesuch des türkischen Präsidenten in Deutschland. Und doch gibt es in Berlin einige Menschen, die ihren Unmut seit Wochen nicht ausleben, sondern im Zaum halten. Diese Menschen sitzen im Kanzleramt und im Schloss Bellevue, dem Sitz des deutschen Bundespräsidenten.

Ärger über die Aggressionen aus Ankara

Auch die Kanzlerin und der Präsident ärgern sich noch immer über die Aggressionen aus Ankara in den vergangenen zwei Jahren. So berichten es die Berater von Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier. Aber die beiden haben entschieden, sich dieses Mal auf einen besonderen Versuch einzulassen. Ohne allzu laute Belehrungen vor seiner Ankunft wollen sie Erdoğan mit einem großen und freundlichen Empfang beehren - um ihn dann, unter dem Eindruck dieser Geste, von seinem harschen, antidemokratischen Kurs abzubringen. Ob das gelingen kann oder doch wieder in unfreundlichen Gesten endet, weiß niemand. Im Umfeld Steinmeiers heißt es, sicher könne man erst sein, "wenn Erdoğan am Samstagabend wieder in der Luft ist". Einen Versuch wert sei es aber trotzdem.

Bis hinauf zum Präsidenten wissen sie, dass man den oft zornigen, egomanischen Erdoğan nicht mal eben zu einem freundlichen älteren Herrn ummodeln kann. Deshalb gibt es bis zuletzt keine Gewissheit, in welcher Stimmung der Gast beim Besuch sein wird. Trotzdem herrscht in Berlin die Hoffnung, ihm erläutern zu können, dass Gesten der Entspannung unverzichtbar sind, wenn er die Beziehungen auf eine bessere Basis stellen möchte.

Dass er das will - daran zweifeln Steinmeiers und Merkels Berater kaum noch. "Es gibt eine Tür in diese Richtung, die so groß ist wie vielleicht noch nie", heißt es im Schloss Bellevue. "Diese Chance sollten wir auf keinen Fall verstreichen lassen." Gemeint sind zwei Umstände, die das Leben für Erdoğan dramatisch verändert haben: die gefährliche Talfahrt seiner Wirtschaft und der offene Konflikt mit den Vereinigten Staaten. Ersteres könnte die Türkei alsbald an den Rand der Zahlungsunfähigkeit führen; Letzteres hat die Krise noch verschärft, weil US-Präsident Donald Trump im Streit um einen Priester harsche Sanktionen verhängt hat. Berücksichtigt man noch Erdoğans ambivalentes Verhältnis zu Russlands Präsident Wladimir Putin, dann bleibt ihm nur noch wenig außer einer Wiederannäherung an Berlin und Brüssel.

Gleichwohl will die Bundesregierung das nicht als Hebel gegen Ankara verwenden, sondern als Grundlage für die eigenen Argumente. Erdoğan, so lautet die Überzeugung, könne man nur dann für einen dauerhaften Kurswechsel hin zu einer Öffnung und mehr Demokratie gewinnen, wenn er das selbst als richtig erkenne. "Wenn wir ihn zwingen oder ihm drohen, wird er reflexhaft ablehnen", heißt es. "Er muss selbst zur Überzeugung kommen, dass es für ihn besser wäre."

Die politischen Häftlinge sind ein großes Problem

Als Konsequenz daraus hat Berlin in den Vorgesprächen zum Besuch deutlich zu machen versucht, dass die Streitfälle über in der Türkei inhaftierte deutsche und türkische Journalisten das gesellschaftliche Klima in Deutschland vergiftet haben. Man habe, so heißt es, jeden einzelnen Fall angesprochen, um der türkischen Seite klarzumachen, was Ankara leisten müsse, wenn es wieder gute Beziehungen erreichen möchte. "Es geht um ein nachhaltiges Verständnis dafür, warum die deutsche Gesellschaft Erdoğan so kritisch sieht - und was nötig ist, damit sich das ändert."

Dabei sind die politischen Häftlinge ein großes Problem, aber längst nicht das einzige. Es geht auch um türkische Einflussversuche und mutmaßliche Spitzeleien in Deutschland. Es geht um Beschränkungen für deutsche Einrichtungen in der Türkei und um stark reduzierte oder beendete Wissenschaftskooperationen. Und darüber hinaus wird über die Rolle der Türkei als Nato-Partner gesprochen, der im vergangenen Jahr ausgerechnet in Russland moderne Flugabwehrraketen gekauft hat.

Diese Punkte nach den zeremoniellen Freundlichkeiten offen anzusprechen, macht der Regierung derzeit allerdings fast weniger Sorgen als die Gefahr, dass Erdoğan mit größten Hoffnungen anreist und Berlin vor allem eine Botschaft parat hat: dass Vertrauen wachsen muss und ein schöner Auftritt nicht auf einen Schlag alle Schmerzen und allen Ärger beendet. "Unsere komplizierteste Aufgabe ist das Erwartungsmanagement", sagt ein Berliner Berater. "Erdoğan hofft auf sehr viel - und kann keinesfalls alles gleich bekommen."

Dass er in der Tat einiges erwartet, machte Erdoğan kurz vor seiner Ankunft in einem Beitrag für die FAZ deutlich. Darin fordert er mehr Gemeinsamkeit im Kampf gegen die PKK und gegen die Organisation von Fethullah Gülen, die Erdoğan für den Putschversuch 2016 verantwortlich macht. Und er erwartet mehr Lob und Lohn für seinen Einsatz in Syrien. Immerhin habe er damit eine neue Flüchtlingswelle verhindert. Erdoğan mag Nöte haben. Selbstbewusst bleibt er trotzdem.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4147545
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 28.09.2018/fie
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.