Erdoğan bei der Präsidentschaftswahl:Kontrollsüchtiger Dirigent am Bosporus

Presidental election in Turkey

Recep Tayyip Erdoğan winkt seinen Anhängern in Istanbul zu. Er dürfte schon im ersten Wahlgang auf mehr als 50 Prozent der Stimmen kommen.

(Foto: dpa)

Er will ein Präsident sein, "der läuft und schwitzt". Recep Tayyip Erdoğan wird an diesem Sonntag voraussichtlich zum neuen türkischen Staatsoberhaupt gewählt. Das Amt erfordert Neutralität. Doch der bisherige Regierungschef dürfte das Land auch als Präsident nach seinem Willen lenken.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Eine Million Menschen machen sich auf den Heimweg. Alle auf einmal. Der Festplatz am Marmarameer ist übersät mit Wahlkampfmüll: Wasserflaschen, Fähnchen, Recep-Tayyip-Erdoğan-Plaketten. "Nicht drängen, nicht trampeln, denkt an die Frauen", schallt es aus den Lautsprechertürmen.

Immer wieder, fast verzweifelt klingt das, weil das Chaos an den Sicherheitsschleusen rund um das riesige Areal so groß ist. Da springt der Premier zurück auf die Bühne, schnappt sich noch mal das Mikrofon und dirigiert minutenlang gestikulierend das Volk persönlich zu den Türen. So als ginge nichts ohne ihn, weder auf dieser Istanbuler Wiese im sommerlichen Abenddunst noch in der Stadt oder im Staat.

Am Sonntag will Erdoğan, 60, der zwölfte Präsident der Türkischen Republik werden, und der erste, den das Volk selber wählt. Bislang hatte das Parlament in Ankara über den ersten Mann im Staat entschieden. Die Direktwahl hat Erdoğans islamisch-konservative AKP per Verfassungsänderung durchgesetzt. Zuvor hatten die politische Opposition und das Militär versucht, 2007 die Wahl des AKP-Mannes Abdullah Gül zum Präsidenten zu verhindern: erst mit einem Abstimmungsboykott, dann mit dem Verfassungsgericht und schließlich mit einer Erklärung des Generalstabs der Streitkräfte im Internet.

Gül gehört wie Erdoğan zu den Gründern der AKP, die seit 2002 mit absoluter Mehrheit regiert. Gül hätte nun ein zweites Mal antreten können. Dies hat Erdoğans Ehrgeiz verhindert, und der stets loyale Gül hat sich ohne öffentlich erkennbares Murren aus der ersten Reihe schieben lassen. Ob Gül künftig noch eine politische Rolle spielen wird, darüber sind sich türkische Beobachter uneins. Zuletzt hatten sich Erdoğan und Gül nicht mehr recht verstanden. Gül twitterte noch, nachdem der Kurznachrichtendienst von Erdoğan bereits gesperrt worden war. Gül wünschte Änderungen am strikten neuen Internet-Gesetz und sträubte sich gegen Eingriffe in die Justiz. Seine Unterschrift unter umstrittene Gesetze aber verweigerte er nie.

Die türkischen Medien sehen das Land auf dem Weg zu einem Präsidialsystem

"Die Türkei wird nach dieser Wahl gar keinen Premier mehr haben", hat Wirtschaftsminister Nihat Zeybekçi, ein Erdoğan-Getreuer, schon verkündet. "Ein Chef des Ministerrats" genüge auch, schließlich werde sich Erdoğan weiterhin um alles kümmern. "Er hat die Bürgermeister kontrolliert. Er wird ein sehr aktiver Präsident sein", zitierte das Massenblatt Hürriyet den Minister, der die Türkei mit der Wahl Erdoğans auf dem Weg zu einem "Präsidialsystem" sieht.

Erdoğan selber hat auch schon betont, dass er weiter regieren und nicht nur repräsentieren wolle: "Die Türkei braucht einen Präsidenten, der läuft und schwitzt." Wie einst Atatürk, der 1923 die Republik schuf, sieht sich Erdoğan als Modernisierer und Reformer. Lieber noch aber vergleicht er sich mit Fatih Sultan Mehmed, der 1453 Konstantinopel eroberte und damit das Ende des Byzantinischen Reichs besiegelte. Der habe Schiffe über Land gezogen, "wir lassen Züge unter dem Bosporus durchfahren", sagte Erdoğan bei der Kundgebung.

Erdoğan entschwebt im Helikopter

Tausende Polizisten und Helfern sicherten diese letzte große Wahlkampfveranstaltung in Istanbul. AKP-Anhänger wurden in städtischen Bussen zu dem Festplatz gebracht. Eine ganze Flotte von Bosporus-Schiffen stand bereit. Am Ende entschwebte Erdoğan in einem Helikopter. Unzählige Smartphones wurden gezückt, nur um das Bild festzuhalten. Die Opposition beklagt, dass dieser Wahlkampf unfair gewesen sei, weil Erdoğan ohne Zögern den gesamten Staatsapparat für seine Zwecke eingespannt habe. Beobachter der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, haben dies auch bemängelt, ohne dass die Regierung in Ankara darauf reagiert hätte.

Nach der türkischen Verfassung darf der Präsident keiner politischen Partei angehören. Er soll über dem Tagesgeschäft stehen. Im Wahlkampf ist dies Erdoğan kaum gelungen. Seinen Gegner Ekmeleddin İhsanoğlu, den gemeinsamen Kandidaten der größten Oppositionsparteien von links bis rechts, griff er so hart an, dass Murat Yetkin, der Ankara-Korrespondent der Hürriyet Daily News, fragte, ob die AKP selbst Zweifel an all den Umfragen habe, die Erdoğan schon in der ersten Wahlrunde klar über der Fünfzig-Prozent-Marke zeigen?

"Wenn es um die Freiheit von Andersdenkenden geht, haben wir ein Problem", sagt ein Vertrauter

Von zwölf Meinungsforschungsinstituten rechnete zuletzt nur ein einziges vor, dass die Entscheidung erst in einer Stichwahl am 24. August fällt. Alle anderen sehen Erdoğan als Gewinner am Sonntag, mit einem Ergebnis zwischen 53 und 58 Prozent.

Um die neun Prozent werden für den dritten Kandidaten vorausgesagt, was eine ziemliche Sensation wäre, weil der 41 Jahre alte selbstbewusste Selahattin Demirtaş der erste Präsidentschaftskandidat der kurdischen Partei HDP ist. Kurdisch zu sprechen war bis vor nicht allzu langer Zeit noch verboten. Die Erdoğan-Regierung hat dies geändert. Im Wahlkampf hat Demirtaş erzählt, wie er und seine Familie sich in der Vergangenheit diskriminiert fühlten. Die Kurden in der Türkei sind gespalten, wie das gesamte Volk: Ein Teil der Kurden unterstützt die linksgerichtete HDP, ein anderer die konservative Erdoğan-Partei.

Der Verfassungsjurist Osman Can, nur wenig älter als Demirtaş und ebenfalls Kurde, ist ein bekannter Mann in der Türkei. Er hat sich in der Vergangenheit einen Ruf als liberaler Kämpfer für das Recht erworben. Vor zwei Jahren hat Erdoğan ihn überzeugt, der AKP beizutreten. Nun gehört Can dem 51-köpfigen Vorstand der Partei an, aber er spricht noch immer offener, als es viele Erdoğan-Vertraute wagen.

Can sieht die Türkei "in einer Phase des Umbaus, der Verwirrung". Das Land sei ein "politisches Labor", sagte Can der Süddeutschen Zeitung. "Jeder sagt, er sei ein Demokrat, aber wenn es um die Freiheit des Andersdenkenden geht, haben wir ein Problem", gibt Can zu. "Das zentralistische System" betrachtet der Jurist als ein "Kernproblem der Türkei". Can sagt, "egal wer an die Macht kommt in der Türkei, er wird alles unter Kontrolle haben wollen". Die AKP sieht er derzeit auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Gewöhnlich geht es nach einem Gipfel wieder herunter. Can dagegen sagt: "Erfolg ist Zement."

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