Erdoğan-Besuch:Deutschen Firmen wird das Klima in der Türkei "zu heiß"

Erdoğan-Besuch: Erdoğan bei der Landung in Berlin - im Hotel Adlon ist eine gute Stunde vorgesehen für sein Treffen mit Vertretern der deutschen Wirtschaft.

Erdoğan bei der Landung in Berlin - im Hotel Adlon ist eine gute Stunde vorgesehen für sein Treffen mit Vertretern der deutschen Wirtschaft.

(Foto: AFP)
  • Wenn deutsche Unternehmer die Türkei verlassen, würde das die Wirtschaftskrise in dem Land verstärken.
  • Mancher mittelständische Betrieb lässt bereits erkennen, dass das politische Klima "zu heiß" werde, um in der Türkei zu bleiben.
  • Am Freitagmittag wird nun der türkische Präsident Erdoğan mit Vertretern der deutschen Wirtschaft in Berlin zusammentreffen.

Von Cerstin Gammelin, Berlin, und  Christiane Schlötzer, Istanbul

Bleiben oder gehen? Diese Frage stellen sich derzeit so manche deutsche Unternehmer, die in der Türkei investiert haben. Ihre Klagen, die sie vertraulich vorbringen, wiegen schwer. In manchen Firmen sind erfahrene türkische Mitarbeiter plötzlich verschwunden, einige haben gekündigt, andere sind nicht mehr aufgetaucht. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan kritisiert zudem die Entscheidungen der formal unabhängigen türkischen Zentralbank. Er macht sich zum obersten Verwalter des milliardenschweren Staatsfonds. Und seinen Schwiegersohn zum Finanzminister.

Wer es gewohnt ist, unabhängigen Institutionen zu vertrauen, der muss da das Vertrauen verlieren, heißt es in Berlin. Mancher mittelständische Betrieb lässt erkennen, dass das Klima "zu heiß" werde, um in der Türkei zu bleiben. Die großen Investoren zögern. Ob sie das direkt ansprechen, an diesem Freitag, wenn einige Erdoğan im Berliner Nobelhotel Adlon treffen?

Dem Präsidenten dürfte klar sein: Wenn die deutschen Unternehmer gingen, so würde das die Wirtschaftskrise in seinem Land verstärken. Fast jeden Tag hören die Türken in den Nachrichten nun dieses Wort: Konkordato - Insolvenz. Gerade hat es eine traditionelle Textilfirma getroffen, 60 Jahre alt, aus Denizli, in der Ägäisregion. Sie hat ihre Zahlungsunfähigkeit erklärt und versucht, mit den Banken eine Schuldentilgung zu vereinbaren. Schuh- und Schmuckhersteller, Lebensmittelproduzenten, eine Verpackungsfirma, auch schon 50 Jahre alt, die Zahl der Insolvenzen steigt sprunghaft.

Über allem schwebt das Problem der Schulden

Die Gründe dafür: Die Firmen haben Kredite in Euro oder Dollar aufgenommen, was lange Zeit günstig war, oder sie brauchen für ihre Produktion Rohmaterial aus dem Ausland. Gegenüber dem Dollar hat die türkische Währung seit Jahresbeginn rund 40 Prozent verloren, ähnlich ist es beim Euro. Anfang Januar gab es für 100 Lira noch gut 22 Euro, am Donnerstag waren es nur noch etwas mehr als 14 Lira.

Im Zuge des Lira-Verfalls sind zudem innerhalb eines Jahres die Verbraucherpreise um fast 18 Prozent gestiegen. Damit ist die Inflationsrate auf dem höchsten Stand seit 2003. Damals war Recep Tayyip Erdoğan gerade erst an die Macht gekommen - auch das in Folge einer Wirtschaftskrise. Erdoğan setzte auf eine liberale Wirtschaftspolitik, öffnete das Land für Investoren. Export, Tourismus, Bauwirtschaft und privater Konsum sorgten für Boomjahre. Inzwischen aber sind viele Wohnungen in den neuen Trabantenstädten rund um Istanbul unverkäuflich, Tunnel und Brücken sind nicht so rentabel wie gedacht. Der größte türkische Industriellenverband, Tüsiad, fordert inzwischen regelmäßig eine Rückkehr zu Rechtsstaatlichkeit und einen proeuropäischen Kurs. Erdoğan aber beharrt: "Es gibt keine Krise", die Türkei sei einem "Angriff" ausgesetzt. Aber der Lira-Absturz hatte schon begonnen, bevor US-Präsident Donald Trump im August Strafzölle wegen der Verfolgung eines US-Pastors verhängte.

Dieter Kempf, als Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie der oberste Industrielobbyist der Republik, hat klargemacht, dass sich das Investitionsklima verbessern müsse - und das Treffen mit Erdoğan mitorganisiert. "Die Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit ist neben Reformmaßnahmen zwingend", sagt er. Demokratische Strukturen seien "maßgeblich, um das Vertrauen der Investoren wieder zurückzugewinnen".

Über allem schwebt das Problem der Schulden. Der türkische Staat, private Unternehmen und Haushalte sind heute stärker verschuldet als vor zehn Jahren. Im ersten Quartal betrugen die Verbindlichkeiten fast 682 Milliarden Dollar - der Vergleichswert lag 2008 bei 431 Milliarden Dollar. Das ist ein veritabler Anstieg. Zudem sind auslaufende Kredite zu bedienen. Internationale Währungshüter rechnen vor, dass die Türkei bald dreistellige Milliardenbeträge umschulden muss; das kann dazu führen, dass Ankara ohne fremde Hilfe zahlungsunfähig wird. Bisher schließt Erdoğan aus, beim Internationalen Währungsfonds vorzusprechen. Eine für Anfang Oktober geplante Mission des Fonds aus Washington ist geplatzt. Aber was macht Erdoğan, wenn das Geld trotz aller Maßnahmen knapp wird? In Berlin erwartet man, dass spätestens dann ideologische Vorbehalte beiseitegeräumt werden.

Im Adlon ist eine gute Stunde vorgesehen für das Wirtschaftstreffen. Gerne auch länger, lässt die türkische Seite wissen. Das Interesse ist groß. In ein paar Wochen soll Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier nach Ankara fahren. Er will das erste deutsch-türkische Wirtschaftsforum eröffnen. Und über ein Großprojekt reden. Das türkische Eisenbahnnetz soll ertüchtigt werden, von deutschen Firmen. Investitionsvolumen: 35 Milliarden Euro.

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