Erdbeben:Die Helfer kämpfen gegen die Zeit

Die Überlebensgrenze für Verschüttete liegt bei etwa 72 Stunden. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, um noch Überlebende zu finden. Besonders in Syrien ist die Situation dramatisch.

Von Andrea Bachstein

Helfer aus aller Welt sind in einem Wettlauf gegen die Zeit im türkisch-syrischen Katastrophengebiet im Einsatz oder dorthin unterwegs. Derweil steigt die Zahl der Opfer des verheerenden Erdbebens vom Montag weiter an. Am Mittwochmorgen wurden mehr als 9600 Tote gemeldet, mehr als 40 000 Menschen wurden verletzt.

Nach einer ersten Einschätzung der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften (IFRC) sind voraussichtlich 150 000 Menschen in der Türkei obdachlos geworden. Den Folgen der Zerstörungen könnten bis zu 23 Millionen Menschen in der Türkei und in Syrien ausgesetzt sein, schätzt die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Allein in der Türkei seien 13,5 Millionen Menschen betroffen, sagte Städtebauminister Murat Kurum am Dienstag, "der Schmerz ist unbeschreiblich".

Die Beben am Montag reichten bis zur Stärke 7,8. Am Dienstag erschütterten weiter Hunderte Nachbeben die Gebiete im Südosten der Türkei und Nordwesten Syriens. Besonders machen den Überlebenden wie den Rettern zerstörte Zufahrtswege und schlechte Wetterbedingungen zu schaffen. Es herrschen starker Wind und Schneefall, Platzregen werden gemeldet, und die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt. Weil Häuser eingestürzt sind oder gefährdet, mussten viele Menschen die Nacht im Freien verbringen. Dazu kommen Stromausfälle wie im südtürkischen Hatay und der Nachbarprovinz Osmaniye, sodass auch intakte Gebäude nicht beheizt sind.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan rief für drei Monate den Notstand in den zehn betroffenen Regionen des Landes aus, wo an die 6000 Gebäude zerstört wurden. Angesichts des Leids und der Schäden sagte der Direktor der Hilfsorganisation Ärzte der Welt Deutschland, François De Keersmaeker, "das ist in Zahlen nicht zu fassen". Er sprach gegenüber der dpa von "einer nie da gewesenen Herausforderung".

Aus den Trümmern werden weiterhin Lebende geborgen. Normalerweise wird die Überlebensgrenze für Verschüttete bei 72 Stunden angesetzt, so lange übersteht ein Mensch ohne Wasser. Nun ist noch die Kälte ein entscheidender Faktor. Ärzte-der-Welt-Chef De Keersmaeker sagte, wegen solcher Umstände legten die Teams seiner Organisation den Fokus zunächst weniger auf medizinische Versorgung als auf "Überlebensstrategien".

Die EU hatte bis Dienstagmittag über ihr Zentrum für Katastrophenhilfe mehr als 30 Such- und Rettungsteams mit 1200 Einsatzkräften für Suche und medizinische Versorgung sowie mehr als 70 Suchhunden mobilisiert, sagte ein Sprecher der EU-Kommission. 19 EU-Staaten sowie Albanien und Montenegro seien an den von Brüssel koordinierten Bemühungen für die Türkei beteiligt.

Erdbeben: Auch von der deutschen Organisation Isar, einem Zusammenschluss ehrenamtlicher Rettungsspezialisten, sind Helfer in die Türkei geflogen.

Auch von der deutschen Organisation Isar, einem Zusammenschluss ehrenamtlicher Rettungsspezialisten, sind Helfer in die Türkei geflogen.

(Foto: Piroschka van de Wouw/Reuters)

Spezialisten für Erdbebensituationen, Hilfsgüter, Medizin und Bergungsgerät sind laut der türkischen Katastrophen- und Notfallbehörde Afad aus 65 Ländern entsandt, mit fast 2700 Mitarbeitern. Afad selbst habe bisher 300 000 Decken, fast 42 000 Familienzelte, Heizgeräte und Küchensets geliefert. Helfer schicken auch die USA, ebenso beteiligen sich beispielsweise Israel, Indien und Pakistan. Chinas Regierung stellte der Türkei 5,5 Millionen Euro Soforthilfe bereit. Selbst Russland bot Hilfe an, das als Verbündeter des Diktators Baschar al-Assad im Bürgerkrieg in Syrien mit Bombenangriffen viel zur Zerstörung der Städte beitrug.

Das deutsche Technische Hilfswerk (THW) entsandte am Dienstag ein Bergungsteam in die Türkei. Es solle Verschüttete suchen und Überlebenshilfe leisten durch die Versorgung mit Trinkwasser, Nahrungsmitteln, Zelten, Decken und Notstromaggregaten, erläuterte THW-Präsident Gerd Friedsam im ZDF. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sicherte der Türkei umfangreiche Hilfe zu. "Wir setzen alle Unterstützung in Bewegung, die wir aktivieren können", sagte sie der Rheinischen Post. Auch die Bundespolizei stelle eine Hundestaffel und ein medizinisches Team zusammen, teilte die Ministerin mit. Zudem hätten Städte, Feuerwehren und Hilfsorganisationen Unterstützung angeboten, "die wir jetzt eng koordinieren, um mit der Türkei abgestimmt zu handeln", so Faeser.

In Nordsyrien stehen Helfer auch vor logistischen Problemen

Besonders schwierig ist die Lage in den vom Bürgerkrieg schwer getroffenen Gebieten Syriens. Die UN teilten mit, es sei vorerst nicht möglich, wichtige Hilfsgüter von der Türkei nach Syrien zu liefern wegen beschädigter Straßen und anderer Logistikprobleme. "Wir können noch nicht sagen, wann es weitergeht", sagte die Sprecherin des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, Madevi Sun-Suon. Ärzte schilderten die Lage in Nordsyrien als "katastrophal und grausam". In Idlib und Umgebung fehle es an schweren Maschinen zur Rettung Verschütteter ebenso wie an Hilfsmaterial, sagte der dpa der Mainzer Arzt Gerhard Trabert, der mit Ärzten in Nordsyrien in Verbindung steht.

Mehr als 2500 Tote wurden bisher in Syrien gezählt, je zur Hälfte etwa in den von der Regierung kontrollierten Gebieten und in den Rebellengebieten im Nordwesten. Die Suche sei wegen fehlender Kräfte und Geräte sowie eines Sturms über Nacht sehr langsam verlaufen, teilte die oppositionelle Hilfsorganisation Weißhelme mit. Hunderte Familien seien noch verschüttet, die Zeit für ihre Rettung werde knapp, sagte der Leiter der Weißhelme, Raed al-Saleh.

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