Erdbeben in der Türkei:Vorwürfe gegen Erdoğan

Erdbeben in der Türkei: Versprechungen und Drohungen im Angesicht der Katastrophe: Recep Tayyip Erdoğan im schwer zerstörten Kahramanmaraş.

Versprechungen und Drohungen im Angesicht der Katastrophe: Recep Tayyip Erdoğan im schwer zerstörten Kahramanmaraş.

(Foto: Adem Altan/AFP)

Während die Zahl der Todesopfer auf mehr als 11 000 steigt, verspricht Präsident Erdoğan im Erdbebengebiet schnelle Hilfe. Doch die Opposition gibt ihm eine Mitschuld an der Katastrophe.

Von Raphael Geiger

Recep Tayyip Erdoğan war immer ein Mann der klaren Sätze, in diesem Moment ist er auch einer der runden Zahlen. Am Mittwoch ist der Präsident nach Kahramanmaraş gekommen, eine Stadt, die von den Erdbeben so schwer getroffen wurde wie kaum eine andere. Eine konservative, abgelegene Gebirgsstadt. Erdoğan gewann bei den Wahlen hier immer große Mehrheiten.

Nun steht er in einem Stadion, das man auf die Schnelle zur Zeltstadt umgebaut hat, und verkündet ein Hilfspaket. In Zahlen, die sich das Publikum merken kann: Betroffene Familien sollen 10 000 Lira bekommen, das sind, weil die türkische Lira schwach ist, nur noch umgerechnet 500 Euro. Er verspricht, es werde nur ein Jahr dauern, bis in den zehn betroffenen Provinzen die kaputten Wohnhäuser neu gebaut sind. Außerdem könnten Menschen, die das möchten, von sofort an in ein Hotel nach Antalya oder Alanya ziehen. "Wir lassen nicht zu", sagt Erdoğan, "dass unsere Bürger auf der Straße bleiben."

Wo ist das Geld für den Bebenschutz geblieben?

Angespannt wirkt der Präsident bei seinem Auftritt, im Mantel draußen in der Kälte, umgeben von seinen wichtigsten Ministern und Beratern. Erdoğan weiß, dass er unter Druck steht. Wie er auf die Tragödie des Erdbebens reagiert, wird mitentscheiden, wie die Wahlen im Mai ausgehen. Und seine Reise ins Katastrophengebiet fällt gerade auf den Tag, an dem in der Türkei erste Kritik an ihm laut wird - bisher hatte sich die Opposition zurückgehalten.

Am Morgen, noch bevor Erdoğan gelandet war, meldete sich der Oppositionsführer aus der Region. Er war früher vor Ort als der Präsident. Und Kemal Kılıçdaroğlu, der Chef der größten Oppositionspartei CHP, griff Erdoğan unerwartet scharf an. Wenn jemand für das Ausmaß der Katastrophe verantwortlich sei, sagte Kılıçdaroğlu, "dann ist es Erdoğan." Der Präsident habe die Türkei trotz der ständigen Erdbebengefahr nicht vorbereitet, habe sogar Gelder aus der Erdbebensteuer abgeleitet.

Erdbeben in der Türkei: Offenbar waren viele Häuser - hier in Kahramanmaraş - nicht gebaut, wie es in seismischen Gebieten sein sollte. Die Opposition lastet das Erdoğan an.

Offenbar waren viele Häuser - hier in Kahramanmaraş - nicht gebaut, wie es in seismischen Gebieten sein sollte. Die Opposition lastet das Erdoğan an.

(Foto: Ronen Zvulun/Reuters)

Der Journalist Murat Yetkin fasste den Angriff auf Erdoğan in einem Satz zusammen: Der König ist nackt. Auch Muharrem İnce meldete sich zu Wort, der 2018 als Präsidentschaftskandidat gegen Erdoğan verlor. İnce fragte, wo eigentlich der Chef des Katastrophenschutzes sei, ein studierter Theologe. "Für eure unqualifizierten Ernennungen werdet ihr die Rechnung bezahlen", schrieb İnce auf Twitter.

So ist der Ton in der Türkei am dritten Tag nach dem Beben. Auch Erdoğan selbst gesteht in Kahramanmaraş ein, dass es Anfang der Woche Probleme gegeben habe, die aber seien jetzt behoben. Und der Präsident droht: Man habe diejenigen genau im Blick, "die gefälschte Darstellungen oder Verzerrungen" verbreiteten. "Der Tag wird kommen", sagt Erdoğan, "an dem wir das Notizbuch öffnen, das wir in der Hand halten."

Erdoğan kam mit einem Erdbeben. Wird er nun auch mit einem gehen?

Noch suchen die Retter nach Lebenden unter den Trümmern, während die Zahl der Todesopfer immer weiter steigt, auf inzwischen mehr als 11 000. Zugleich aber beginnt der Kampf um die politische Deutungshoheit: Erdoğan muss zeigen, dass er noch immer der eine starke Mann der Türkei ist, der oberste Krisenmanager, an dem niemand vorbeikommt. Andernfalls kann die Opposition ihm gefährlich werden, indem sie die Probleme beim Erdbebenschutz als symptomatisch darstellt: Als beispielhaft für die Intransparenz und die Korruption, die sie dem Präsidenten vorwirft.

"Erdoğan ist mit einem Erdbeben gekommen", sagte Can Dündar, der frühere Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet. "Und er geht mit einem Erdbeben." Eine Anspielung auf das Beben von Izmit im Jahr 1999, als sich die Türkei in einer schweren Wirtschaftskrise befand - wie heute. Bei den Wahlen 2002 gewann Erdoğans AKP dann zum ersten Mal die Mehrheit, eine neue Zeit begann.

Erdbeben in der Türkei: In einem Jahr sollen die Häuser wieder stehen, verspricht der türkische Präsident: Szene aus Kahramanmaraş.

In einem Jahr sollen die Häuser wieder stehen, verspricht der türkische Präsident: Szene aus Kahramanmaraş.

(Foto: Dilara Senkaya/Reuters)

Der angegriffene Präsident reiste am späteren Mittwoch weiter in die Provinz Hatay, ganz im Süden des Landes an der Grenze zu Syrien. Ein Gebiet, in dem die Hilfe besonders schleppend ankommt. Ein Augenzeuge in der dortigen Stadt Iskenderun, Yosef Şimşek, erzählte der Süddeutschen Zeitung am Telefon von Zuständen "wie in einem Kriegsgebiet". Die Stadt könne man kaum noch so nennen, sagte er. "Nichts funktioniert." Kein Wasser komme aus der Leitung, Strom habe er erst seit kurzem wieder. Er habe erwogen, die Stadt zu verlassen, aber die Buslinien seien nicht in Betrieb.

"Wir machen uns Gedanken wie in einem Kriegsgebiet"

"Und wenn ich nicht mehr hier wäre", sagt Şimşek, "was wird dann aus meinem Haus? Solche Gedanken machen wir uns jetzt ­- wie in einem Kriegsgebiet." Schon wieder dieses Wort.

Am Ende sagte Şimşek noch einen Satz, der nicht nur seine Gefühlslage beschreibt. Sondern die eines ganzen Landes, das gerade seine größte Katastrophe erlebt. Nach Jahren der politischen und wirtschaftlichen Dauerkrise, nach Jahren unter dem ewigen Präsidenten Erdoğan. Die Türkinnen und Türken sehen nun Drohnenbilder aus verwüsteten Städten wie Iskenderun oder Kahramanmaraş, sehen Fernsehaufnahmen von letzten Rettungsversuchen, wenn irgendwo unter Trümmern noch eine Stimme zu vernehmen ist.

Nicht mehr lange, dann werden die Retter nur noch Tote bergen. "Es ist", sagt Yosef Şimşek, "als würde man in ein tiefes Loch fallen."

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