68er-Bewegung:"68 hat die Gesellschaft bis in ihre Tiefe verändert"

Gedenken an Benno Ohnesorg, 1967

In einem Schweigemarsch gedachten 7 000 Münchner Studenten ihres Berliner Kommilitonen Benno Ohnesorg.

(Foto: SZ photo; Bearbeitung SZ)

Wolfgang Kraushaar gilt als Chronist der 68er-Bewegung. Ein Interview über das, was die Studentenrevolte vor 50 Jahren auslöste, was geblieben ist und warum sich die AfD so stark an dieser Generation abarbeitet.

Interview von Lars Langenau, Hamburg

Wolfgang Kraushaar, 68, arbeitet als Politikwissenschaftler für die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.

SZ: Vor 50 Jahren hat der West-Berliner Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras dem Studenten Benno Ohnesorg in den Hinterkopf geschossen. War das Totschlag, fahrlässige Tötung oder Mord?

Wolfgang Kraushaar: Diese Frage ist nie richtig geklärt worden - und wird sie vermutlich auch nicht mehr. Derjenige, der diesen einzigen, aber tödlichen Schuss abgeben hat, Karl-Heinz Kurras, ist inzwischen selbst tot und hat sich nicht mehr dazu geäußert. Allerdings muss man davon ausgehen, dass es ein gezielter Schuss war, der Ohnesorg aus unmittelbarer Nähe traf.

50 Jahre 68er-Bewegung - ein Schwerpunkt

Vom tödlichen Schuss auf Benno Ohnesorg über die Massendemonstrationen bis zum blutigen Terror der RAF: Alle Analysen, Interviews und Fotos zur 68er-Bewegung finden Sie hier.

Was war der Schütze für ein Mensch?

Ein Waffennarr. Und als Angehöriger eines zivilen Greiferkommandos der Berliner Polizei hat er für sich wohl am 2. Juni 1967 im Rahmen des Polizeieinsatzes zum Schah-Besuch eine Gelegenheit gesehen, seine Vorliebe ausleben zu können. Da ja auch Zivilbeamte ihre Dienstwaffe mit dabeihaben, konnte er wohl auch so schnell seine Pistole zücken. Die ganze Situation in dem Hinterhof nahe der Deutschen Oper war zudem unübersichtlich, die Ereignisse überschlugen sich. Kurras hat absichtlich nach seiner Waffe gegriffen und, so meine ich, auch absichtlich abgedrückt. Anders kann ich mir diesen Schuss jedenfalls nicht erklären. Das wirft einen besonderen Schatten auf diesen Polizeieinsatz am 2. Juni, der nicht umsonst als polizeilicher Willkürakt in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen ist. Für Benno Ohnesorg war es tragisch, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen zu sein.

Notwehr, wie Kurras damals behauptete, können Sie ausschließen?

Laut der vielen Zeugenaussagen und der Rekonstruktionen des situativen Ablaufs halte ich das für eine von ihm selbst erfundene Legende.

Warum ist er dann freigesprochen worden?

Angeklagt war er ja ohnehin nur wegen fahrlässiger Tötung - und letztendlich wurde er wohl freigesprochen, weil er Angehöriger der Berliner Polizei war. Wäre damals bekannt gewesen, dass er ein Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit der DDR war, dann wäre er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch verurteilt worden - und zwar wegen Mordes.

Könnte die DDR den Auftrag zum Mord an einem Studenten in Auftrag gegeben haben, um die Stimmung in West-Berlin weiter anzuheizen?

Theoretisch mag ein solch abstraktes Gedankenmodell denkbar sein, kaum aber in diesem konkreten Fall. Denn das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und damit wahrscheinlich auch das Politbüro der SED dürften in großer Sorge gewesen sein, dass bekannt werden würde, dass es einer ihrer Leute war, der den Schuss abgegeben hat. Das wäre ein Imageschaden sondergleichen gewesen und hätte den vorrangigsten Zielen der damaligen DDR-Regierung widersprochen.

Die da wären?

Vor allem das Buhlen um die weltweite Anerkennung als eigenständiger Staat. Ich glaube, die Schützen-Theorie überschätzt das MfS und unterstellt dem DDR-Geheimdienst Dinge, die für die SED keinen Sinn machen. Die DDR hat dann ja auch alles unternommen, damit ihr IM Kurras nicht auffliegt. Nicht ohne Grund hat man die Überführung Ohnesorgs von West-Berlin nach Hannover als Staatsakt inszeniert. Es standen damals Tausende von FDJ-Mitgliedern an der Transitstrecke, um dem Konvoi mit Ohnesorgs Leichnam ein letztes Geleit zu geben.

Ohnesorg war unpolitisch und ein Zufallsopfer. Warum eignete er sich trotzdem als Märtyrer?

Vielleicht gerade deshalb. Weil sein Tod zeigte, dass es jeden hätte treffen können. Ganz zufällig aber wurde er ja nicht zum Opfer, weil er schließlich zu dieser Demo gegen den Schah gegangen ist. Und er hatte zuvor wohl auch Nirumands Taschenbuch über Iran und die Verbrechen des Schah-Regimes gelesen.

Benötigte die Studentenbewegung zu dieser Zeit einen Märtyrer?

Das ist im Nachhinein hin und wieder behauptet worden. Rudi Dutschke, der eigentliche Anführer der Studentenbewegung, wurde durch das auf ihn am 11. April 1968 verübte Attentat selbst zu einem Beinahe-Märtyrer, was er durch seinen Tod Heiligabend 1979 in den Augen vieler auch tatsächlich wurde. Zweifelsohne haben die auf Ohnesorg und Dutschke abgegebenen Schüsse die Dynamik unglaublich aufgeheizt. Zunächst war das, was wir unter "1968" verstehen, nichts anderes als eine lokale Studentenrevolte an der Freien Universität Berlin. Von hier sprang der Funke dann auf Westdeutschland und die anderen Universitäten und Hochschulen über.

Wann die Studentenproteste begannen

Eigentlich begann das, was wir unter 1968 verstehen schon 1967. Oder noch früher?

Die ersten direkten, dynamischen Aktionen begannen in Berlin Ende 1964 mit der Demonstration gegen den kongolesischen Separatisten-Politiker Moïse Tschombé, den man völlig zu Recht für den Mord an dem ersten demokratisch gewählten Premier des Kongo, Patrice Lumumba, verantwortlich machte. Die Proteste haben sich in den Jahren darauf peu à peu gesteigert und sind schließlich am 2. Juni eskaliert.

War der Vietnamkrieg der Brandbeschleuniger?

Es gab schon in den 50er Jahren Proteste gegen den Koreakrieg, die Wiederbewaffnung und insbesondere gegen die von Strauß geplante Atombewaffnung der Bundeswehr. Ab Mitte der 60er Jahre sah man aber Abend für Abend via TV Bilder vom ebenso brutalen wie menschenverachtenden Krieg der USA in Vietnam. Dann drehte sich auch in der Öffentlichkeit der Wind. Es war ein grausamer Krieg unserer Schutzmacht USA, inklusive Verbrechen amerikanischer Soldaten. Für die Nachkriegsgeneration, die den USA so viel zu verdanken hatte, entstand ein moralischer Zwiespalt.

Diese Verbrechen beschädigten das gute Bild von den amerikanischen Befreiern.

Ich würde sogar sagen, es entstand eine tiefgehende Vertrauenskrise. Zum einen existierte ohnehin ein starkes Misstrauen wegen der unzureichend verarbeiteten Nazi-Vergangenheit. Zum anderen kam nun das Schweigen der deutschen Politiker zum Vietnamkrieg hinzu. Selbst ein Mann wie Willy Brandt brachte es nicht fertig, sich als Außenminister der Großen Koalition zum mörderischen Geschehen in Südostasien zu äußern.

Es entstand ein Generationenkonflikt?

Genau. Exemplarisch dafür steht Peter Brandt, der älteste Sohn von Willy. Während er demonstrierte, schwieg sein Vater beharrlich. In gewisser Weise brach ein binnenfamiliärer "Krieg" aus, der sich zehntausendfach in den Familien abspielte.

Was trug noch zum Aufbegehren gegen Amerika bei?

Als John F. Kennedy 1963 auf offener Straße ermordet wurde, war das insbesondere für die junge Generation ein großer Schock. Wie kein anderer US-Präsident verkörperte er die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Als dann im April 1968 auch noch Martin Luther King und bald darauf Robert Kennedy erschossen wurden, schien das Vertrauen in den amerikanischen Staat vollends verspielt zu sein. Alle drei standen für das andere Amerika, ein besseres Amerika. Keiner dieser Morde ist vollständig aufgeklärt worden und es ist bis heute offengeblieben, welche Geheimdienste ihre Finger mit im Spiel hatten. Durch diese drei Taten setzte sich bei vielen fest, dass etwas mit den USA nicht stimmen könne.

Sie erwähnten auch die fehlende Aufarbeitung der Nazizeit. Aber es gab den engagierten hessischen Staatsanwalt Fritz Bauer, der Eichmann- und die Auschwitz-Prozesse begannen bereits Anfang der 60er Jahre. Was haben die 68er damit zu tun?

Mehr, als man ihnen heute zugestehen möchte. Zwar regte sich bereits in den 50er Jahren Protest gegen Veit Harlan, den Regisseur des antisemitischen Hetzfilms "Jud Süß". Der Kern jener Demonstranten, die sich vor den Kinos versammelten, bestand damals schon aus Studenten. Auch sein Sohn Thomas Harlan setzte sich öffentlich mit seinem Vater und der NS-Vergangenheit auseinander. Er arbeitete auf das Engste mit Fritz Bauer zusammen und unterstützte ihn bei der Vorbereitung des Auschwitz-Prozesses. Besonders in der Zeit zwischen 1962 und 1965 nahmen Studenten die Nazi-Vergangenheit ihrer Professoren unter die Lupe. Sie stießen nicht selten bei jenen auf explizit antisemitische Schriften, bei denen sie in den Vorlesungen saßen. Ihnen wurde dadurch klar, wie tief und weit die Verstrickungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft in die Nazizeit reichten. Ralf Dahrendorf, der linksliberale Soziologe und spätere FDP-Politiker, machte sich in Tübingen mit einer Ringvorlesung um die Aufklärung über "die braunen Universitäten" verdient. Das Bewusstsein von der Schuld der Elterngeneration sickerte mehr und mehr ins Bewusstsein der neuen Generation ein.

Wolfgang Kraushaar

Wolfgang Kraushaar: Die Proteste haben sich peu à peu gesteigert und sind schließlich am 2. Juni eskaliert

(Foto: dpa)

Die drei Schüsse auf Rudi Dutschke führten zu einer weiteren Eskalation. "Die Kugel Nummer 1 stammt aus Springers Blätterwald", sang später Wolf Biermann.

Die Verantwortung für das Attentat hat man gleich dem Axel-Springer-Verlag in die Schuhe schieben wollen. Doch der Attentäter, der Münchner Rechstextremist Josef Bachmann, hatte bei seiner Fahrt nach Berlin die Deutsche National- und Soldatenzeitung von Gerhard Frey dabei. Und da stand tatsächlich drin: "Stoppt Dutschke jetzt! Sonst gibt es Bürgerkrieg." Durch diese Hetze scheint Bachmann in erster Linie beeinflusst gewesen zu sein. Das ändert nichts daran, dass viele Springer-Blätter und insbesondere die Bild-Zeitung die studentischen Proteste geradezu verteufelt haben. Deshalb war die Empörung der Studenten darüber völlig legitim. Dass allerdings am Abend des Dutschke-Attentats Lieferwagen der Springer-Presse angesteckt wurden, war in dem konkreten Fall durch eine zu leichtfertige Schuldzuweisung entstanden.

Auf den Fotos der Demonstrationen von damals sieht man neben Bildern von Che Guevara und Ho Chin Min auch Mao. Zeitgleich tobte die Kulturrevolution in China. Hatte die deutschen Studenten davon nichts mitbekommen?

Das war reine Unkenntnis - obwohl man es eigentlich besser hätte wissen können. Zwar gab es noch kein umfassendes Bild von den Säuberungen und Hinrichtungen unter Mao Zedong, aber deutsche und internationale Zeitungen berichteten durchaus von den Gräueltaten der "Kulturrevolution", bei denen Hunderttausende umgekommen sind.

Wer fing mit dieser Ikonografie an?

Die Mitglieder der Kommune I bezeichneten sich als Erste als Maoisten und beriefen sich sogar auf das chinesische Modell der Volkskommunen, das sollte die Keimzelle einer Gegengesellschaft werden. Es ging dabei letztlich um die Abschaffung der bürgerlichen Kleinfamilie durch einen Kommunenverband. Die Kommunarden haben sich in der chinesischen Botschaft in Ostberlin das Rote Büchlein besorgt und es vertrieben. Dadurch finanzierten sie sich zu einem nicht unerheblichen Teil.

Was die 68er wollten

Was wollten die 68er eigentlich?

Irgendwas mit Neo-Sozialismus. Aber im Ernst. Spezifischer wurde das kaum, der SDS löste sich auch schnell auf und zerstreute sich - wenn auch nicht nur - in alle möglichen Sekten. Wenn es bei den zahllosen Teach-ins dieser Tage einmal ernst wurde, dann wich man derartigen Nachfragen mit dem Argument aus, dass man sich auf keine Zukunftsprojektionen festlegen dürfe. Es gab so etwas wie ein politisch begründetes Utopieverbot.

Manche sind in den Terrorismus abgeglitten ...

Weil sie glaubten, dass der Faschismus wieder vor der Tür steht. Das habe ich für Hysterie gehalten. Auch halte ich das Diktum, dass sich Kapitalismus und Demokratie zwangsläufig ausschließen, für einen Kardinalfehler der 68er. Allerdings trifft ihre scharfe Kritik an der parlamentarischen Demokratie in mancher Hinsicht noch heute zu. Schauen Sie sich etwa den grassierenden Lobbyismus in Berlin und Brüssel an.

Wo schlagen sich heute noch die kulturellen Einflüsse der 68er nieder?

Das ist ein großes Kapitel und lässt sich in wenigen Sätzen nur streifen. Die Grünen sind zu einem nicht unerheblichen Teil ein Spätprodukt dieser Zeit. Auch der Spielraum für persönliche Entwicklungen erweiterte sich maßgeblich: So können sich selbst konservative Politiker heute zu ihrer Homosexualität bekennen, ohne Nachteile für ihre politische Karriere befürchten zu müssen.

Außenminister Joschka Fischer, Innenminister Otto Schily und Kanzler Gerhard Schröder sind auch schon wieder Geschichte ...

Schröder selbst lehnte es explizit ab, sich als 68er zu verstehen. Er war später allerdings eine Zeit lang Bundesvorsitzender der Jusos. Schily war damals bereits ein prominenter Anwalt und stand (obwohl er sich hin und wieder an Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg beteiligte) der Bewegung eher distanziert gegenüber. Allein Joschka Fischer war im damaligen Kabinett ein klassischer 68er. Obwohl er kein Akademiker war und nie studiert hat. Er hat sich wie ein Autodidakt alles selbst beigebracht und blieb so etwas wie die paradox anmutende Figur eines intellektualisierten Nichtintellektuellen.

Und jetzt werden wir mit Kanzlerin Angela Merkel von den 89ern regiert?

Die Redewendung von den "89ern" halte ich für ein bloßes Konstrukt. Der Begriff "68er" ist kaum weniger problematisch. Diese Bezeichnung hat sich erst in der Rückerinnerung nach den zuvor benutzten Bezeichnungen "Studentenbewegung" und "APO" durchgesetzt. Das war vor allem medial als Abgrenzung zur damaligen "No-Future-Bewegung" gedacht, jener Jugendbewegung, die durch Hausbesetzungen und Nacktdemonstrationen für Aufsehen sorgte. Quantitativ betrachtet waren es auch weitaus weniger Demonstranten, die zwischen 1967 und 1969 auf den Straßen waren als in den fünfziger Jahren. Selbst zu seinen besten Zeiten hatte der SDS bundesweit nicht mehr als 2500 Mitglieder. Die größte Demonstration, der "Sternmarsch auf Bonn" am 11. Mai 1968, hatte 60 000 Teilnehmer. Im Vergleich dazu demonstrierten gegen den Nato-Doppelbeschluss zu Beginn der 80er Jahre Hunderttausende.

Warum haben die damaligen Studenten in der Geschichtsschreibung dann so einen großen Stellenwert gewinnen können?

Ich denke, dass mit ihnen ein neuartiges Verständnis des Politischen aufgekommen ist. Eines, das stark subjektiv geprägt war und bei dem es vorrangig um Emanzipation ging. Den meisten Demonstranten ging es immer auch um die eigene "Selbstbefreiung". Das war neu - und das Ziel, alles in Frage stellen und ausprobieren zu wollen, das hatte es zuvor - und wenn ich mich nicht sehr irre - auch danach nicht wieder gegeben. Das war eine einzigartige historische Signatur.

"1968" wird verehrt - und von der Alternative für Deutschland verteufelt ...

Die AfD steht als rechtspopulistische Partei für eine ganz andere Politik und Geisteshaltung als die 68er. Sie versucht in gewisser Weise das Rad der Geschichte zurückzudrehen und stellt insofern eine Art Konterrevolution dar. Ein AfD-Demagoge wie Björn Höcke möchte die NS-Vergangenheit am liebsten wie ein bloßes Vergangenheitsrelikt abschütteln, um Deutschland als "normale" Nation wieder feiern zu können.

Warum ist in diesen Kreisen der Hass auf Angela Merkel so groß?

Weil sie glauben, dass die konservativ ausgerichtete CDU "sozialdemokratisiert" wurde. Dass sich die Bundesregierung Themen wie die Emanzipation der Frau und die Schwulenehe zum Teil zu eigen gemacht hat. Aber vielleicht reicht es denen auch, dass mit Merkel eine Frau hat Kanzler bzw. Kanzlerin werden können.

Warum arbeitet sich die AfD so stark an den 68ern ab?

Begonnen hat das Ende der 80er Jahre mit der von Helmut Kohl bemühten "geistig-moralischen Wende". Die AfD grenzt sich gegenüber den 68ern schon in ihrem Parteiprogramm ab - und sie trifft mit ihrer Anti-68er-Suada auch einen politischen Punkt: Denn aus ihrer Sicht bewegt sich die CDU unter Angela Merkel immer stärker auf den soziokulturellen Pfaden der 68er. Ich würde die von den Christdemokraten vollzogenen Veränderungen als Modernisierungsstrategie bewerten, die vom Erbe der 68er-Bewegung weitgehend abgekoppelt zu betrachten ist. Aber die AfD-Leute sehen darin die Aufkündigung ihrer konservativen Werte, nicht ganz zufällig stammen viele ihrer Wähler ursprünglich aus der CDU.

Die AfD beklagt die "Verlotterung" der Sitten durch die 68er.

Die 68er haben im engeren politischen Sinne fast nur Niederlagen einstecken müssen. Gleichzeitig haben sich Kinderläden entwickelt, eine andere Form der Pädagogik an den Schulen wurde praktiziert sowie mehr Mitbestimmung an den Universitäten durchgesetzt. Oder denken Sie an die Wohngemeinschaften, die ein ganz normales Modell des Zusammenlebens wurden, die aber erstmals mit den Kommunen entstanden waren. All das hat den soziokulturellen Wandel der Gesellschaft beschleunigt und ist unter der sozialliberalen Koalition der 70er Jahre in viele Reformprojekte eingeflossen. In der Folge der 68er-Bewegung haben sich rund 50 000 Bürgerinitiativen gebildet. Das war ein unglaublicher Input, der nur durch die Überzeugung, dass man sein gesellschaftliches Anliegen selbst in die Hand nehmen müsse, entstehen konnte.

Heute nennt man das Zivilgesellschaft ...

... und genau die ist damals massiv gewachsen und hat die deutsche Gesellschaft bis in ihre Tiefendimension hinein verändert.

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