Drei Monate vor der Europa-Wahl hat das Bundesverfassungsgericht offenbart, welche Bedeutung es dem am 25. Mai zu bestimmenden Parlament beimisst: eigentlich keine. Die europäische Volksvertretung ist aus Karlsruher Sicht eine Schwatzbude, in der die möglichst präzise Abbildung des Wählerwillens viel wichtiger ist als die Mehrheitsbildung, weil das Parlament in den europäischen Entscheidungsprozessen ja ohnehin wenig zu sagen hat.
Das politische Signal für die Europa-Wahl lautet mithin: Protestwähler, Tierschützer und sonstige Partikularisten, geht zu den Urnen! Für Euch lohnt es sich, weil ein oder sogar zwei Mandate winken. Für alle anderen ist die Wahl egal, weil es sich nur um eine Institution von inferiorer Bedeutung handelt und die größeren Fraktionen am Ende sowieso zu einer Soße verschwimmen. Für die Europa-Wahl, die in Deutschland traditionell unter geringer Beteiligung leidet, ist das ein - vorsichtig formuliert - betrübliches Signal.
Gewiss, es ist nicht die Aufgabe des Gerichtes, für die Mobilisierung der Wähler zu sorgen, schon gar nicht im Dienste der etablierten Parteien. Aber unter den Instrumenten der parlamentarischen Demokratie, die in Deutschland seit 1949 gelernt wurden, gehört die Fünf-Prozent-Hürde zu den bedeutendsten. Der Eingriff in den Grundwert der Chancengleichheit ist massiv und doch breit akzeptiert, weil er seit Jahrzehnten für stabile Verhältnisse sorgt.
Eine politische Ungerechtigkeit
Anders gesagt: Es gibt wohl keine andere politische Ungerechtigkeit hierzulande, die so viele Anhänger hat. Wer ihre Rechtmäßigkeit für unterschiedliche Wahlen plötzlich unterschiedlich auslegt, sollte überzeugende Gründe haben. In diesem Urteil stehen sie nicht.
Das Gericht sagt, dass man die Funktionen des europäischen Parlamentes und des Bundestages nicht gleichsetzen kann. Das ist richtig. Das Gericht ist weiter der Meinung, dass eine größere politische Rolle des Parlamentes zwar angestrebt werde, diese aber in den Anfängen stecke. Auch diese Lagebeschreibung ist korrekt, aber die Konsequenz daraus völlig unverständlich. Denn den Zustand, den das Gericht moniert, festigt es noch, weil eine weitere Zersplitterung die großen Fraktionen in noch mehr Kooperation zwingt. Wie soll das Parlament da sein Profil schärfen? Und warum hat Karlsruhe in den tatsächlich bedeutungslosen ersten drei Dekaden des Parlaments die Sperrklausel geduldet, verwirft sie aber in dem Moment, in dem das Parlament Einfluss gewinnen soll? Logisch ist das nicht.
Das Gericht muss die Übereinstimmung nationaler Gesetze mit der Verfassung prüfen. Das heißt aber nicht, dass es streng national denken muss, wenn es um eine Entscheidung von europäischer Tragweite geht. Das tut das Gericht aber, weil es ignoriert, dass in fast allen anderen EU-Staaten formale oder - wegen der geringen Mandatszahl für kleine Länder - faktische Sperrklauseln gelten.
Gingen plötzlich alle EU-Länder in ihrem Wahlrecht den deutschen Weg, würde dies zu einer Zersplitterung führen, die dem nahe käme, was auch die Richter als "Fehlentwicklung" beschreiben. Dann aber wäre der deutsche Gesetzgeber laut Karlsruhe wieder legitimiert, eine Sperrklausel einzuführen. Deutschland würde so zum ewigen Geisterfahrer auf dem Weg zu mehr Integration auch im Wahlrecht.
Ein Zerbröseln der Fünf-Prozent-Hürde ist nicht wünschenswert
Ohne Sperrklausel hätten 2009 neben den etablierten Parteien - einschließlich der FDP - auch die Freien Wähler, die Republikaner, die Tierschutzpartei, die Familienpartei, die Piraten, die Rentnerpartei und die ÖDP Sitze im EU-Parlament gewonnen, letztere mit 0,5 Prozent. In keinem anderen Staat kommt man so leicht nach Europa wie in Deutschland - dem Land, das gemessen an seiner Einwohnerzahl ohnehin weniger Sitze hat als andere.
Das größte Problem an der Entscheidung besteht jedoch darin, dass das Gericht die Argumente für die Fünf-Prozent-Hürde bei der Bundestagswahl allmählich selber sturmreif schießt. Bei der Europa-Wahl 2009 blieben 2,8 Millionen Stimmen für insgesamt 27 Parteien im Parlament unberücksichtigt. Das hält Karlsruhe nun nicht mehr für statthaft. Bei der Bundestagswahl 2013 indes reichten allein zwei Millionen Zweitstimmen für die FDP nicht für den Einzug ins Parlament, weitere zwei Millionen für die AfD ebenfalls nicht, eine Million für die Piraten auch nicht - und rund eine halbe Million für die NPD glücklicherweise auch nicht.
Wenn Karlsruhe die Bedeutung, die es jetzt der Chancengleichheit zumisst, ernst nimmt, wird es diese gewaltige Diskrepanz künftig selbst mit den unterschiedlichen Rollen der Parlamente kaum noch rechtfertigen können. Ein Zerbröseln der Fünf-Prozent-Hürde aber ist nicht wünschenswert. Das Gericht muss dann sich selbst Einhalt gebieten.