Entschädigungen:Der neue Preis der Ehre

Deutsche Gerichte setzen bei Verletzungen von Würde und Ehre zunehmend auf Abschreckung. Blanker Voyeurismus kann inzwischen für die Medien richtig teuer werden.

Von Wolfgang Janisch

Der Rekord von 2009, so viel sei für die Freunde des Superlativs vorausgeschickt, ist nicht geknackt worden. 2009 hatte das Oberlandesgericht Hamburg der schwedischen Prinzessin Madeleine 400 000 Euro Entschädigung für eine lange Liste völlig frei erfundener Geschichten in zwei bunten Blättern zugesprochen, darunter: 17 bevorstehende Hochzeiten, vier Schwangerschaften, 45 Liebesaffären. Jörg Kachelmann hat es an diesem Dienstag beim OLG Köln auf eine Summe von 395 000 Euro gebracht, zu zahlen vom Springer-Verlag wegen einer nicht ganz so langen Liste von Fotos und Texten in der Bild-Zeitung und auf Bild Online. Hier ging es nicht um Lügen, sondern um wahre Geschichten, allerdings solche, die niemanden etwas angehen und Kachelmann vor dem Publikum völlig nackt dastehen ließen: intime Details aus seinem Sexualleben, privater SMS-Verkehr, voyeuristische Fotos aus dem Gefängnis. Schwere Verletzungen seines Persönlichkeitsrechts, befand das Gericht: Kachelmann sei geradezu "ausgezogen" worden, hatte die Vorsitzende Richterin Margarete Reske in der Verhandlung Ende April gesagt.

Nun mag das Spiel mit den Zahlen auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, Kachelmann hätte in Köln so halb verloren. Das Landgericht hatte ihm noch 635 000 Euro zugesprochen, er selbst hatte gar 950 000 Euro gefordert. Schaut man sich die Begründung des OLG an, dann stellt man freilich fest: Es ist immer noch eine stattliche Entschädigungssumme, die das OLG da festgesetzt hat. Und zwar deshalb, weil - anders als bei den Märchen über Madeleine - über den Prozess gegen Kachelmann grundsätzlich berichtet werden durfte. Sogar bis in viele intime Details hinein, weil dies der Vorwurf der Vergewaltigung nun mal mit sich bringt. Dass ein Prominenter wegen einer schweren Straftat vor Gericht steht, ist ein legitimer Anlass für Medienberichte - daran ändert der spätere Freispruch nichts, hatte Richterin Reske in der Verhandlung erläutert.

Soll die Annäherung an die halbe Million kleine Medienhäuser einschüchtern?

Schon eine zulässige Berichterstattung hätte also von Kachelmanns Privatsphäre nur noch wenig übrig gelassen. Zwar attestierte das Gericht den Springer-Medien, dass es sich - anders als von Kachelmanns Anwälten behauptet - keineswegs um eine "gezielte und gesteuerte Kampagne" gehandelt habe. Und doch lagen die Exzesse von Bild und Bild Online aus Sicht des OLG so weit jenseits der roten Linie, dass es offenkundig einen Warnschuss abfeuern wollte. Als besonders gravierend stufte das Gericht jene Fotos ein, die auch abseits des Gerichtssaals jeden privaten Winkel des Angeklagten ausleuchteten: Kachelmann mit nacktem Oberkörper auf dem Gefängnishof, Kachelmann auf dem Weg in den Urlaub, Kachelmann am Ort seiner Hochzeit. Dafür veranschlagte das Gericht einmal 30 000 und zwei Mal 20 000 Euro.

Erst Madeleine, dann Kachelmann: Markiert die allmähliche Annäherung an die halbe Million den Einstieg in immer höhere Medienklagen? In Urteile, die selbst den großen Verlagen wehtun können? Oder in Schadenersatzsummen, die kleinere Medienhäuser über Gebühr einschüchtern?

Die Angst vor amerikanischen Verhältnissen dürfte schon deshalb unberechtigt sein, weil es in beiden Fällen um sehr viele schwere Übergriffe ging - 26 bei Kachelmann, 86 bei Madeleine. Richtig ist aber: dass Urteile wegen Paparazzi-Fotos oder intimer Details richtig teuer werden können - diese Tendenz ist dem Anspruch gleichsam implantiert worden. Denn er soll weder zählbaren Schaden ausgleichen, noch Schmerzen kompensieren, wie man das sonst vom Schadenersatz kennt. Die Entschädigung soll vielmehr präventiv wirken, also die einschlägigen Blätter von künftigen Schmuddelgeschichten abschrecken. Und abschreckend wirkt nur, was auch großen Medienhäusern wie Springer wenigstens ein bisschen wehtut. Das klingt ziemlich amerikanisch.

Mehrere Hunderttausend Euro - eine solche Summe erhält sonst nur ein Querschnittsgelähmter

Als Ende des 19. Jahrhunderts das Bürgerliche Gesetzbuch geschrieben wurde, hatte man auf einen solchen Anspruch noch verzichtet. Geld für Ehrverletzungen? Zumal die "besseren Volkskreise", wie es damals hieß, waren der Ansicht, die Ehre könne man sich nicht abkaufen lassen. Die Richter späterer Generationen freilich fanden, die BGB-Autoren hätten hier eine Lücke hinterlassen. Schon das Reichsgericht entwickelte einen Schutz gegen "Ehrkränkungen". Und 1958 sprach der Bundesgerichtshof einem Kläger ein "Schmerzensgeld" für die Verletzung seines Persönlichkeitsrechts zu: 10 000 Mark für einen Brauerei-Inhaber, unter Juristen als "Herrenreiter" bekannt; eine Pharmafirma hatte mit einem Foto des Mannes mit Pferd für ein Potenzmittel geworben.

Das "Schmerzensgeld" wurde später in Entschädigung umgetauft; die neue juristische Figur des "immateriellen" Schadenersatzes für schwere Übergriffe in die Persönlichkeitssphäre, die bis heute in keinem Gesetz steht, setzte sich durch. Nicht zuletzt deshalb, weil die Gerichte ahnten, welche Gefahren mit dem Siegeszug der Massenmedien verbunden sein könnten. Im "Soraya"-Beschluss von 1973 gab schließlich das Bundesverfassungsgericht sein Plazet. Auch damals ging es übrigens schon um ein frei erfundenes Interview mit der geschiedenen Frau des Schahs: "Soraya: Der Schah schrieb mir nicht mehr." Die Gerichte setzten 15 000 Mark fest. Werden die Summen weiter steigen? Theoretisch ist das denkbar, weil Warnschüsse nur gehört werden, wenn sie laut genug sind. Allerdings sollten die Gerichte möglicherweise darauf achten, dass die Kluft zum echten Schmerzensgeld nicht zu groß wird: Was Kachelmann nun zugesprochen wurde, bekommt sonst nur ein Querschnittsgelähmter. Vor anderthalb Jahrzehnten hatte sich das Bundesverfassungsgericht einmal mit der Frage befasst, ob Schäden aufgrund von Schocks womöglich zu gering entgolten werden, verglichen mit Verletzungen von Würde und Ehre. Geklagt hatte ein Elternpaar: Ein Betrunkener war in ein Auto gerast und hatte ihre drei Kinder getötet. Ihr Schmerzensgeld war sehr viel höher, als es üblicherweise für solche Schocks gewährt wird. Und doch lag es - für beide zusammen - nur bei 110 000 Mark. Das war Mitte der Neunzigerjahre. Also zu der Zeit, als Caroline von Monaco für diverse Übergriffe in ihre Privatsphäre 180 000 Mark erstritten hatte.

Jörg Kachelmann bei der Ankunft zu seiner Verhandlung am Landgericht Mannheim

Wo alles begann: Den Vergewaltigungsprozess gegen Jörg Kachelmann - hier beim Auftakt 2010 in Mannheim - haben die Medien intensiv begleitet. Kachelmann wurde später freigesprochen. Bis heute aber gibt es Streit über die Berichterstattung.

(Foto: Rainer Klotz/action Press)
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