Süddeutsche Zeitung

Entnazifizierung:Erfolgreicher als bislang angenommen

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Historikerin Hanne Leßau hellt auf, wie die West­deutschen sich nach 1945 mit der NS-Zeit auseinander­setzten. In ihrem Buch kommt sie zu einem Fazit, das manche überraschen dürfte.

Rezension von Knud von Harbou

Es wirkte wie eine auf den Punkt gebrachte Widerspiegelung. Mehr als 16 Millionen Deutsche waren in der frühen Nachkriegszeit in den Westzonen gehalten, anhand von 131 Punkten eines alliierten Fragebogens ihre Beziehung zum Nationalsozialismus zu offenbaren. Ernst von Salomon schrieb korrespondierend dazu seinen berühmten autobiografischen Bericht "Der Fragebogen".

Er erschien 1950 und war einer der großen Bestseller der Nachkriegsliteratur, was zeigte, wie sehr das Buch das Gefühl der Zeit traf. Er wie auch die von den Fragen Betroffenen reagierten durchweg mit Abwehr: Schnell dominierte die Legende der von Nationalsozialisten verführten Idealisten oder die von Verbrechern und sozialen Außenseitern dominierte NS-Gesellschaft.

Die Entnazifizierung samt ihrem Vehikel des Fragebogens verlief im Sand, weil zwar leichte Fälle bearbeitet wurden, jedoch zurückgestellte Anklagen gegen Schwer- und Schwerstbelastete kaum mehr zur Verhandlung kamen, sie unterlagen einer allgemeinen De-facto-Amnestie und blieben unbehelligt.

Die Historikerin Hanne Leßau hat nun anhand sehr umfangreichen Aktenmaterials der Verfahrensbetroffenen die spezifischen Deutungen ihrer NS-Vergangenheit ausgewertet. Im Fokus steht dabei ein privates Sprechen über die eigene Situation während des Dritten Reichs, eine Rhetorik, die wesentlich Einblick in die Nachkriegsideologie gewährt.

Zum Vorschein kommen zweifelhafte Rechtfertigungen und Distanzierungen zum NS-Staat, aber auch die Ressentiments gegen die Alliierten. Die Forschung versuchte zu erklären, wie trotz dieser kruden Mischung die BRD zu einer "geglückten Demokratie" werden konnte. Bis heute hält sich, dass eine immense Auswertungsbürokratie gewissermaßen als "Mitläuferfabrik" die gigantische Tarnung aller Beteiligten akzeptierte.

Leßau beleuchtet das Scheitern der Entnazifizierung näher, indem sie diese stärker als bisher aus ihrer Zeit heraus verstehen will. Anhand einer "Praxis- und Erfahrungsgeschichte" der Überprüfung ermittelt sie die Verfahrenshintergründe, die aus ihrer Sicht einen neuen narrativen gesellschaftlichen Diskurs erzeugten, mit dem fortan über die NS-Zeit gesprochen wurde. Sie stellt damit die Praxis des Entnazifizierens in den Mittelpunkt und nicht wie bisher deren institutionelle Entwicklung.

Doch eingebunden war die "Denazification" zunächst in praktisches Verwaltungshandeln: NS-Gesetze wurden aufgehoben, der öffentliche Raum von NS-Propaganda gereinigt, eine demokratische Zukunftsvision demonstriert, der Wiederaufbau abgesichert. Dazu mussten Millionen Deutsche überprüft werden, eben durch den Fragebogen.

Jeder zweite Westdeutsche war davon betroffen. Voll Erstaunen stellt Leßau fest, wie wenig die Forschung diesen Komplex bisher untersucht hat. Schon im Herbst 1943 erarbeitete der US-Geheimdienst 70 Fragen.

Sie sollten die Grundlage für die Belastungs-Kategorien abgeben: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer, Entlastete. Wohl aus Arbeitsökonomie beließen die Alliierten es bei Standardfragen mit Ja- oder Nein-Antworten, nur auf der letzten Seite waren wenige Zeilen für persönliche Bemerkungen vorgesehen (was zu einer Fülle von Anlagen führte, bei denen offenblieb, inwieweit sie berücksichtigt wurden).

Teilweise Differenzen mit dem NS-Staat wurden nun als klare Distanzierung ausgegeben

Grundsätzlich kommt die Untersuchung zu dem Ergebnis, dass die Eingaben der Entnazifizierten keine verlässliche Darstellung ihrer Vergangenheit bieten. Die Autorin fragt jedoch über den stereotypen Charakter der Lügen hinaus nach dem Spezifischen der Argumentationsstruktur der Befragten, denen es "massenhaft gelang, ihr jeweiliges Leben an die durch das Verfahren nahegelegten 'Entschuldigungsgründe' anzuschließen".

Zur Hilfe nahmen sie dabei "Persilscheine". Der Historiker Lutz Niethammer kam für Bayern zu dem Ergebnis, dass "jeder zweite Erwachsene einen Persilschein (d. h. Leumundszeugnis) ausgestellt habe". Dem Stellenwert dieser Testate geht die Autorin gründlich nach, doch in keinem Fall erwiesen sie sich als unmittelbar gefälscht.

Interessant ist ihr Hinweis, dass die an sich ergiebigen Leumundszeugnisse, die ja den Rahmen der knappen Aussagen der Fragebögen bei Weitem sprengten, eine objektive Bewertung des NS vermieden. Sie nahmen nur auf den episodenhaften Bericht der Befragten Bezug. Inwieweit sie dabei Unwahres behaupteten, blieb in der Regel unberücksichtigt.

Leßau glaubt, dass diese Struktur der Hilflosigkeit des Sprechens über die eigene Verstrickung im NS-Staat der frühen Nachkriegszeit geschuldet war. Zu denken wäre aber auch an eine geschickte Regie, etwaige Täter-/Mittäterschaft auszublenden.

Es waren nicht die verschleiert beschriebenen Eintrittsgründe in die Parteikader der NSDAP, sondern die Behauptung, auch während des Dritten Reichs "ein selbstbestimmtes, individuelles Leben gelebt zu haben".

Daher schälen sich drei Komplexe in den Fragebögen heraus: nachgewiesene Kritik am NS-Regime, Konflikte mit Parteistellen sowie "die Weigerung, die eigene Lebensführung an die ideologischen Kategorien des NS anzupassen". In allen Variationen dominierten konkrete Auseinandersetzungen mit dem NS-System. Wesentlich dabei waren Zustimmung zum NS bei gleichzeitiger partieller Differenz.

Diese Ambiguität wurde allerdings als grundsätzliche Distanzierung ausgegeben. Bis ins Kleinste werden so alle Verhaltensmuster von Rechtfertigungen vorgeführt. Ausgeblendet blieb das Wissen um den NS-Massenmord, wohl aber wurden Einzelfälle antisemitischer Gewalt in den Anlagen geschildert als Beleg dafür, kein Nationalsozialist gewesen zu sein.

Immerhin wurde für etwa eine Million der 13 Millionen überprüften Meldebögen ein schriftliches Spruchkammerverfahren eröffnet. Nur in ganz wenigen Fällen wurden die Überprüften zu einem persönlichen Gespräch vorgeladen.

Leßau schließt hier eine Lücke über die Organisation dieser Entnazifizierungsbürokratie, die seit den 80er-Jahren bestand. Als die Überprüfung Anfang der 50er-Jahre endgültig in deutsche Hände überging, erfolgte eine "Liquidation der Entnazifizierung" (Norbert Frei). So wurden in einer Kleinststadt bei Hannover in Anwesenheit der Ratsmitglieder alle Ermittlungsakten feierlich im Ofen des städtischen Gaswerks verbrannt.

Solche Vorgänge wiederholten sich überall. Bezeichnenderweise wurde dem Verbleib der Akten wenig Beachtung zuteil. Adenauers Versuche, diese doch zu erhalten, prallten an der Länderkompetenz ab. Immerhin erreichten 1,5 Millionen Akten (erst) Mitte der 60er-Jahre das Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf.

1953 wollte nicht mal jeder fünfte Westdeutsche eine Aufarbeitung

Eine Umfrage 1953 ergab, dass nur 17 Prozent der Bürger mit der Aufarbeitung der Vergangenheit einverstanden gewesen waren. Eine große Mehrheit hielt die Entnazifizierung für überflüssig. Zu klar hatte sich im Diskurs der frühen Nachkriegszeit die Schutzbehauptung einer grundsätzlichen Distanz zum NS-Staat seit den frühen 30er-Jahren sowie die Vorstellung "guter Ideen des NS, deren Umsetzung jedoch pervertiert wurde", durchgesetzt.

Dieser Mythos hielt nur bis Ende der 50er-Jahre. In den Vordergrund rückte die Frage, wann das "Verschweigen", "Verdrängen" endeten und die "Selbstbesinnung" begann. Abkehr vom NS und Hinwendung zur Demokratie bleiben für die Autorin ungeklärt. Leider bricht die Untersuchung an dieser zentralen Stelle ab, nicht aber ohne den Hinweis auf den unlängst verstorbenen Historiker Axel Schildt, der appellierte, "Vergessen und Verschweigen in der Erinnerung" zu behalten.

Die beeindruckende Studie liefert ein vorzügliches soziologisches Organigramm der Entnazifizierung. Die psychischen Momente bei der Beantwortung des "Fragebogens" in Form von kollektiver Verdrängung und taktilen Verschweigens, bleiben eher außen vor.

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SZ vom 19.10.2020
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