Entlassung von Norbert Röttgen:Von unersetzlich zu unbrauchbar

Was ist wirklich vorgefallen zwischen Merkel und Röttgen? Darüber kursieren in Berlin mehrere Geschichten. Sie reichen von einem Kandidaten mit "partiellem Realitätsverlust" bis hin zu einer eiskalten Kanzlerin, die um ihren eigenen Kopf fürchtet. Der Fall Röttgen ist ein gutes Beispiel für den Kampf um die Deutungshoheit in der Politik.

Michael Bauchmüller, Nico Fried und Robert Roßmann, Berlin

Der Auftritt war kurz, das Nachspiel dauert deutlich länger. Keine zwei Minuten brauchte Bundeskanzlerin Angela Merkel am vergangenen Mittwoch, um die Öffentlichkeit über den Rausschmiss von Umweltminister Norbert Röttgen (beide CDU) zu informieren. Eine Woche währt nun bereits die Aufarbeitung der Geschehnisse. Die Debatte offenbart nicht nur viel über den inneren Zustand der CDU. Sie ist auch ein Lehrstück über den Kampf um die Deutungshoheit im politischen Berlin.

Nach einer Auseinandersetzung wie dieser, noch dazu, wenn das entscheidende Gespräch unter vier Augen stattfand, sind die Medien zwangsläufig vor allem auf Informationen Dritter angewiesen, die zwar nicht dabei waren, aber zum sogenannten Umfeld der Beteiligten gehören. Folgerichtig sind mittlerweile zu einigen Punkten unterschiedliche Versionen, manchmal auch nur Akzente in Umlauf gebracht worden, die nicht zuletzt mit den Interessen des jeweiligen Lagers zu erklären sind.

Abweichende Deutungen gibt es vor allem zu den Absprachen vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zwischen Merkel und Röttgen über dessen Verbleib im Amt des Umweltministers, aber auch über den Inhalt des Gesprächs im Kanzleramt am vergangenen Dienstag und die Motive Merkels, Röttgen zu entlassen.

Als relativ gesichert darf gelten, dass es am Rande der Bundespräsidentenwahl am 18. März ein Gespräch Röttgens mit Merkel und Horst Seehofer gegeben hat. Seehofer hatte darüber im ZDF berichtet: "Ich habe ja mit ihm gesprochen, persönlich und über die Bild-Zeitung", erzählte der CSU-Chef. "Persönlich hat er mich dann abtropfen lassen, die Kanzlerin war ja dabei." Die Entscheidung über den Verbleib in Nordrhein-Westfalen sei nicht Röttgens Privatsache, will Seehofer dem Umweltminister gesagt haben. "Wenn Sie das nicht korrigieren, dann wird's uns hart treffen."

Darüber, welche Position Merkel vertrat, gibt es zwei Varianten. Die eine lautet, sie habe Röttgen empfohlen, zumindest seine Bereitschaft zu erklären, auch als Oppositionsführer nach Düsseldorf zu wechseln. Dann hätte sie nach der Wahl erklärt, Röttgen sei für die Energiewende unentbehrlich und hätte ihn mit diesem Argument als Umweltminister in Berlin gehalten. Diese Variante gilt im Röttgen-Lager gleich auch noch als Beweis dafür, dass Merkel ihre Meinung über Röttgens Leistung als Minister binnen weniger Tage aus opportunistischen Gründen geändert habe: von unersetzlich zu unbrauchbar.

Eine andere Variante besagt indes, dass Merkel Röttgen nicht zu einer bestimmten Positionierung drängte, sondern von ihm lediglich forderte, überhaupt eine Erklärung abzugeben. Auf Unverständnis nicht nur im Kanzleramt stieß seinerzeit vor allem, dass Röttgen auf die Frage nach seiner Zukunft im Falle einer Niederlage gar keine Antwort geben wollte. Tatsächlich wurde in der Umgebung Merkels damals auch für möglich gehalten, dass Röttgen politisch sogar durchkommen könnte, wenn er offen sagte, dass er nur als Ministerpräsident nach Düsseldorf wechseln, anderenfalls aber Umweltminister bleiben wolle.

Röttgens Tunnelblick, Merkels Kopf

Nahezu Allgemeingut ist mittlerweile die Deutung, dass Röttgen wenige Tage vor der Wahl Merkel in Mithaftung für das absehbar schwache Ergebnis der CDU nehmen wollte. Deshalb habe er die Wahl in NRW auch zu einer Abstimmung über Merkels Kurs der Haushaltskonsolidierung in Europa erklärt. Obwohl Merkel gern als eiskalte Machtpolitikerin beschrieben wird, findet eine zweite Variante erstaunlich wenig Anhänger: Demnach nutzte Merkel mehr von sich aus einen im CDU-Präsidium abgesprochenen Strategiewechsel Röttgens, um gegen ihn den Vorwurf erheben zu lassen, er wolle die Kanzlerin beschädigen. Indem sie Röttgen der Illoyalität zeihen ließ, vergrößerte sie die politische Distanz, um vom CDU-Desaster nicht persönlich betroffen zu sein. Vielleicht stimmt auch von beidem etwas.

Entlassung von Norbert Röttgen: Was ist passiert zwischen Norbert Röttgen und Angela Merkel?

Was ist passiert zwischen Norbert Röttgen und Angela Merkel?

(Foto: imago stock&people)

Im Wahlkampf, so heißt es nun, habe Röttgen "einen Tunnelblick" gehabt, sei für Kritik unerreichbar gewesen. Vor allem Christdemokraten aus Nordrhein-Westfalen fällt allerdings auf, dass solche Klagen über Röttgen erst laut wurden, als sich das Desaster von Düsseldorf abzeichnete. Bis vor zwei Wochen habe er als sehr guter Umweltminister und guter Spitzenkandidat gegolten, nun aber als psychisch auffälliger Dilettant.

Was am vergangenen Dienstag von 17 Uhr an eine Stunde lang im Kanzleramt besprochen wurde, wissen nur Merkel und Röttgen. In zwei Varianten im Umlauf ist eine Äußerung Merkels, dass nun ihr politisches Schicksal auf dem Spiel stehe. "Es geht jetzt um meinen Kopf", soll sie gesagt haben. Oder: "Jetzt geht es um mich". Sollte ein solcher Satz wirklich gefallen sein, wäre die Entlassung Röttgens eher dem politischen Überlebenskampf Merkels zuzuordnen.

Die Gegenvariante betont den Autoritätsverlust Röttgens durch das desaströse Wahlergebnis sowie die Dickschädeligkeit des Umweltministers im Umgang mit der Energiewende. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung berichtete, Merkel habe in einem Telefonat mit Seehofer am Mittwoch die fortwährende "Beratungsresistenz" Röttgens als einen Grund für die Entlassung genannt.

Einerseits gab es zuletzt tatsächlich Klagen auch von Wohlgesonnenen, Röttgen kapsele sich ab. Im eigenen Ministerium würde er einen Stab von Vertrauten hegen, deren Rat er beinahe blind folge. Von außerhalb dieses Zirkels sei es so gut wie unmöglich, an ihn heranzukommen, selbst für die Chefs von Bundesbehörden, die dem Umweltminister zuarbeiten sollen. Andererseits wirken manche Beschreibungen doch recht übertrieben: So versuchen einzelne Verteidiger der Kanzlerin, den geschassten Minister inzwischen als beinahe unzurechnungsfähig darzustellen. Von "partiellem Realitätsverlust" und "Autismus" ist die Rede.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: