"Jemand musste Josef K. verleumdet haben . . . ", so beginnt einer der berühmtesten Romane des 20. Jahrhunderts und geht so weiter: " . . . denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." Schrecken um Schrecken dringt auf den Angestellten K. ein. Er wird verhört, verlacht, verführt und weiß doch nicht, wie ihm geschieht. Alle scheinen mehr über ihn zu wissen als er. Nie erfährt K., wer ihn angezeigt hat, was ihm vorgeworfen wird und wer ihn angreift. Er kann sich gegen die Verleumdung nicht verteidigen und ist von diesem ersten Satz an ruiniert.
Der bürgerliche Horrorroman "Der Process" entstand im Sommer 1914, als in Mitteleuropa der Erste Weltkrieg mit all seinen Schrecken ausbrach. Franz Kafka, der Autor, schilderte eine völlig irreale Tragödie aus der frühen Angestelltenwelt. Natürlich konnte Kafka nicht ahnen, dass er damit auch auf einen ganz anderen Horror vorauswies: die öffentliche Kompromittierung.
Die Staatssicherheit der DDR war besonders kreativ im Herstellen von angeblichem Beweismaterial. Als Verteidigungsminister hatte Franz Josef Strauß bei der amerikanischen Rüstungsfirma Lockheed den extrem unfallträchtigen Jagdflieger Starfighter bestellt und dafür angeblich Schmiergeld in Millionenhöhe erhalten. 1978 wurde einem Redakteur der Süddeutschen Zeitung der Mitschnitt eines Telefonats zugespielt, das Strauß mit Wilfried Scharnagl, dem Chefredakteur des CSU-Blatts Bayernkurier, geführt hatte.
Heute genügt ein Gerücht
In dem Gespräch ging es unter anderem darum, dass Strauß Unterlagen, die seine Bestechlichkeit bewiesen hätten, rechtzeitig beiseiteschaffen konnte. Das Gespräch hatte, wie Strauß bestätigte, tatsächlich stattgefunden, allerdings ohne die angebliche Manipulation von Akten, die Strauß hätten schaden können. Einem Politiker, der es selbst beizeiten verstand, Willy Brandt als unehelichen Vaterlandsverräter zu schmähen, war zwar ohne Weiteres zuzutrauen, dass er sich von der Rüstungsfirma Lockheed hatte schmieren lassen. Aber so war es nicht. Die Stasi hatte das alles nur erfunden und ins Protokoll gefälscht.
1987 sollte der bei Springer abgeworbene Journalist Reiner Pfeiffer als Medienreferent des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel dessen Gegenkandidaten Björn Engholm mit allen Mitteln der schwärzesten Kunst diskreditieren. Pfeiffer versuchte, Engholm als homosexuell zu denunzieren und mit einer erfundenen Aids-Diagnose zu konfrontieren. Barschel, dessen Sieg zunächst gefährdet zu sein schien, gewann die Wahl.
Pfeiffer musste für seine von Barschel gedeckten Umtriebe noch zum guten alten Telefon greifen und sich als Arzt ausgeben, musste womöglich eine Wanze einbauen, um glaubwürdig zu wirken. Für die Rufschädigung braucht es heute nicht mehr als ein Gerücht, das übers Internet lanciert wird, wie Bettina Wulff, die Frau des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff, erfahren musste, der eine Vergangenheit als besseres Callgirl nachgesagt wurde. Die Tatsache, dass ein Schwarzer Präsident der Vereinigten Staaten werden konnte, schmerzte die Feinde Barack Obamas so sehr, dass sie nicht müde wurden, ihn mit gefälschten Belegen zum Moslem zu stempeln, der außerhalb der USA geboren worden sei, sich die Präsidentschaft also erschlichen hätte.
Eine neue Form sozialer Kontrolle ist entstanden
In den USA geht es in der Politik seit je um alles, und deshalb ist auch alles erlaubt. Kaum ist der Gegenkandidat für den Sitz im Senat oder für das Amt des Bürgermeisters bekannt, beginnt ein Team von Rechercheuren, dessen Biografie nach kompromittierenden Details zu durchforsten: Verfügt er über unethische Firmenbeteiligungen? Saß er in der Schule womöglich neben einem, der sich später radikalisierte? Hatte er nicht vielleicht ein Verhältnis mit einer Sekretärin? Oder beschäftigte er wenigstens eine Putzfrau, ohne sie bei der Versicherung anzumelden?
Eine neue Form sozialer Kontrolle ist entstanden. Wie harmlos ging es in der alten Welt noch zu, als den Wirtshauskrakeelern ihr Lokalverbot am Anschlagbrett des Dorfes verkündet wurde! Seit dem Fall Sebastian Edathys wird sich jeder Politiker hüten, mit einem Mausklick vom rechten Wege abzukommen, will er nicht als Porno-Süchtiger an den Pranger kommen. Jeder auf einer Party gefallene Satz kann, wenn er den Weg ins Richtmikrofon findet - über Facebook multipliziert und in alle Welt getwittert - die Diplomatin als dominante Machtpolitikerin entlarven (der Fall Nuland). Oder die Ehefrau eines Parteifreundes wird, weil es ein Intrigant so will, über Nacht als Prostituierte bloßgestellt (der Fall Bettina Wulff).
Heute kann es jeden treffen
Diese wenig erfreuliche soziale Kontrolle bringt einen Tugendterror hervor, von dem die katholische Kirche nicht einmal in ihren besten Zeiten zu träumen wagte. Die Vernichtungslust von interessierter Seite darf auf die Leichtgläubigkeit und vor allem die Schadenfreude des Publikums rechnen. Julia Timoschenko war zwar lange ein Medienliebling, aber wenn es in den Wahlkampf geht, ist wie im Krieg jedes Mittel recht.
Der über Jahrzehnte immer drastischer entwickelte Paparazzo-Journalismus, der Stars abwechselnd berühmt und unmöglich macht, hat ein lerneifriges Publikum von Aufklärern nachgezogen. So unerfreulich diese Demokratisierung manchmal sein mag, sie entlarvt Machthaber. Timoschenko hat sich mit ihrer jetzt offenbarten Mordlust unmöglich gemacht. Die Aussichten für weniger Berühmte sind nicht viel besser. Der Handy-Reporter ist überall. Vor 100 Jahren war der Angestellte, über den ohne Vorwarnung das Unheil hereinbricht, noch die Erfindung eines Schriftstellers. Heute kann es jeden treffen. Manchmal - siehe Recep Erdoğan und erst recht Julia Timoschenko - trifft es auch die Richtigen.