Süddeutsche Zeitung

Enthüllung von Wikileaks:Geheime Afghanistan-Protokolle offengelegt

Im Internet kursiert eine Sammlung von 92.000 Militär-Dokumenten über den Afghanistankrieg. Die Daten zeigen, wie schlecht es um den Kampf gegen die Taliban steht und wie gefährlich der Einsatz der Bundeswehr ist.

Es ist der Albtraum für jeden Geheimdienst: Eine Sammlung von fast 92.000 Afghanistan-Militärdokumenten offenbart das Wiedererstarken der radikalislamischen Taliban im Krieg gegen die Isaf-Schutztruppe. Die US-Einheiten und deren Verbündete verlieren in dem seit knapp neun Jahren andauernden Krieg am Hindukusch immer mehr an Boden - ihre Sicherheit ist in Gefahr. Die Lage verschlechtert sich auch im Norden des Landes, wo deutsche Soldaten im Einsatz sind.

Die Unterlagen waren zunächst der Internetplattform Wikileaks zugespielt worden. Wikileaks sammelt geheime offizielle Dokumente aus anonymen Quellen, um Missstände öffentlich zu machen. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel sowie die Zeitungen New York Times und Guardian aus London analysierten jeweils für sich die gewaltige Datenmenge der amerikanischen Streitkräfte. Sie glichen nach eigenen Angaben die Informationen aus Agentenberichten, abgehörten Telefongesprächen, Protokolle von Treffen amerikanischer Militärs mit regionalen Politikern mit den offiziellen Darstellungen der Lage in Afghanistan ab.

Die Blätter veröffentlichten ihre Berichte am Sonntagabend zeitgleich im Internet. Die Dokumente umfassen die Jahre von 2004 bis 2009. Erst in der vergangenen Woche hatten sich Vertreter aus mehr als 70 Staaten und Organisationen in Kabul zur Afghanistan-Konferenz getroffen - und Präsident Hamid Karsai ihre Zuversicht beteuert, sein Land werde bis zum Jahr 2014 selbständig für seine Sicherheit sorgen können. Angesichts der nun offengelegten Protokolle erscheint dies nahezu zynisch.

Der Spiegel teilte mit, die Unterlagen zeigten den Krieg aus der unmittelbaren Sicht der US-Soldaten. Es geht beispielsweise um Einsätze der Task Force 373, einer US-Eliteeinheit. Sie sei darauf spezialisiert, Top-Taliban gezielt auszuschalten. Die Dokumente geben auch Auskunft über Opfer unter Zivilisten bei den Kommandoaktionen. In den Dokumenten werde zudem deutlich, dass der pakistanische Geheimdienst heimlich die Taliban in Afghanistan unterstütze.

Wikileaks-Gründer Julian Assange sagte dem Spiegel: "Das Material wirft ein Schlaglicht auf die alltägliche Brutalität und das Elend des Krieges. Es wird die öffentliche Meinung verändern und auch die von Menschen mit politischem und diplomatischem Einfluss." In der Fülle stelle das Material alles in den Schatten, was über den Krieg in Afghanistan gesagt worden sei. "Diese Daten sind die umfassendste Beschreibung eines Krieges, die es jemals während eines laufenden bewaffneten Konflikts gegeben hat."

Mehr und mehr Anschläge im Norden

Der nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Barack Obama, James L. Jones, zeigte sich empört. "Die USA verurteilen aufs Schärfste die Veröffentlichung von Geheiminformationen durch Einzelne oder Organisationen, durch die das Leben von Amerikanern und deren Verbündeten gefährdet und die nationale Sicherheit bedroht wird." Wikileaks-Gründer Assange stellte klar, dass das gesamte Material vor der Veröffentlichung daraufhin überprüft worden sei, ob durch Details tatsächlich Soldaten im Afghanistan-Einsatz oder deren Verbündete in Gefahr geraten könnten.

Bis zum Redaktionsschluss hatte das Weiße Haus eine Stellungnahme trotz wiederholter Anfrage verweigert, wie der Spiegel schreibt. Am Samstag habe es schließlich schriftliche Antworten auf einzelne Fragen geschickt, ein Interview jedoch weiterhin abgelehnt. Für die US-Regierung ist der Zeitpunkt, zu dem das brisante Material an die Öffentlichkeit kommt, besonders ungünstig: Vor wenigen Wochen erst hat Präsident Barack Obama seinen Afghanistan-Kommandeur Stanley McChrystal austauschen müssen, weil der in einem Zeitungsinterview sehr deutliche Worte für die desolate Lage am Hindukusch gefunden und scharfe Kritik an Washington geäußert hatte.

Sondereinheit unter Kommando des Pentagons

Der Spiegel arbeitet vor allem die Lage der deutschen Truppen im Norden des Landes heraus. Diese sei bedrohlich, die Zahl der Kampfhandlungen habe ebenso drastisch zugenommen wie die Zahl der Anschläge. Auch der Einsatz von Spezialeinheiten der US-Streitkräfte helfe nur bedingt.

Etwa 300 Soldaten einer dieser Einheiten - jener Task Force 373 - seien abgeschirmt auch im deutschen Lager Masar-i-Scharif untergebracht. Die Mitglieder des Sonderkommandos tragen keine Namen an der Uniform, ihre Nachtlager sind von denen der anderen Soldaten getrennt. Aufgabe dieser Spezialeinheiten sei die gezielte Tötung ranghoher Taliban, aber auch von Drogenbaronen, Bombenbauern und Al-Qaida-Mitgliedern. Bei solchen Operationen gebe es zahlreiche Fehlschläge und zivile Opfer - auch Kinder.

Deutsche Truppen unvorbereitet

Auftraggeber der Kommandos für die Task Force 373 sei direkt das US-Verteidigungsministerium, die Sondertruppe untersteht somit weder dem Kommando der internationalen Schutztruppe Isaf noch dem zuständigen amerikanischen Befehlszentrum Centcom. Nicht ablesen lasse sich aus den Dokumenten, wie viele Ziele die Sondereinheit bereits anvisiert habe, schreibt der Spiegel. Allein die vierstelligen Vorgangsnummern legten allerdings den Schluss nahe, dass die Zahl hoch sei.

Das Magazin berichtet, dass es in den Dokumenten keine Hinweise auf weitere, bislang nicht bekannte Übergriffe deutscher Soldaten auf die Zivilbevölkerung gebe. Allerdings lasse sich aus den Unterlagen schließen, dass die deutsche Truppen unvorbereitet in den Krieg gezogen seien. Das Magazin kommt nach Durchsicht der Dokumente zu dem Schluss, die Sicherheitslage im Norden Afghanistans werde immer schlechter.

Auch über die enge Verbindung zwischen Taliban und pakistanischem Geheimdienst gibt es mit den nun offengelegten Dokumenten viele neue Belege: Demnach hat der pakistanische Geheimdienst Directorate for Inter-Services Intelligence (ISI) die Taliban mit aufgebaut und gefördert, als nach dem Abzug der Sowjets 1989 Afghanistan im Bruderkrieg der siegreichen Mudschahedin versank. Trotz aller Beteuerungen pakistanischer Politiker, die alten Verbindungen seien gekappt, betreibe das Land weiter eine doppelbödige Politik, schreibt der Spiegel.

In den Dokumenten werde deutlich, dass der pakistanische Geheimdienst der vermutlich wichtigste außerafghanische Helfer der Taliban ist. Der Krieg gegen die afghanischen Sicherheitskräfte, die USA und ihre Isaf-Verbündeten werde noch immer aus Pakistan heraus geführt. Seit den Anschlägen der al-Qaida auf das World Trade Center in New York steckt das Nachbarland von Afghanistan in der Klemme: Offiziell schließt sich Pakistan der Anti-Terror-Koalition an; inoffiziell ist das Land Rückzugsraum und Aufmarschbasis für alle feindlichen Kräfte.

Über die pakistanisch-afghanische Grenze strömten die neuen Rekruten der Taliban, darunter gefürchtete ausländische Kämpfer, zu denen inzwischen auch Islamisten aus Europa gehören. ISI-Abgesandte seien dabei, wenn sich Kommandeure der Aufständischen zum Kriegsrat treffen. Sie geben sogar präzise Mordbefehle, berichtet der Spiegel mit Bezug auf das Logbuch des Afghanistan-Kriegs. Am 21. August 2008 heißt es in einer festgehaltenen Warnung lapidar: "Colonel Mohammad Yusef vom ISI hat den Talib Maulawi Izzatullah angewiesen, dafür zu sorgen, dass Karsai ermordet wird."

Über das Internetprojekt Wikileaks werden brisante Dokumente aus anonymer Quelle öffentlich zugänglich gemacht. Dass der Name an Wikipedia erinnert, ist gewollt. Zum einen ähnelt der Internetauftritt optisch der Online-Enzyklopädie; zum anderen kann wie bei dem großen Mitmach-Lexikon jeder etwas veröffentlichen. Bei Wikileaks geht es speziell um geheime Dokumente - das englische Wort "leak" bedeutet: undichte Stelle. Wikileaks versteht sich als Informantennetzwerk. Die Idee dahinter: Kritische Journalisten und Blogger sollen die geheimen Informationen aufgreifen.

Hinter dem Projekt steckt eine Non-Profit-Organisation namens The Sunshine Press, über die allerdings auch nicht viel bekannt ist. Im sozialen Netzwerk Facebook heißt es, die Organisation sei unter anderem von Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und Anwälten ins Leben gerufen worden.

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