Entführung von Gaddafi-Sohn:Hannibal al-Gaddafi: Entführt, um ein Rätsel zu lösen

  • Im Libanon hat am Montag ein Richter Haftbefehl gegen Hannibal al-Gaddafi, den Sohn des ehemaligen libyschen Diktators, erlassen.
  • Vergangene Woche war al-Gaddafi unter einem Vorwand in den Libanon gelockt, dann entführt und schließlich den Behörden übergeben worden.
  • Die Aktion soll Klarheit in das Verschwinden des charismatischen schiitischen Geistlichen Musa as-Sadr bringen, der 1978 in Libyen verschwand.

Von Julia Ley

Es ist eine Geschichte, die sich ein Krimiautor nicht besser hätte ausdenken können. Der Sohn eines arabischen Diktators wird entführt, um mit seiner Hilfe die Entführung eines anderen Mannes aufzuklären. Die Verstrickungen, die zu dieser Nachricht führen, umspannen in ihren Ausmaßen ein halbes Jahrhundert nahöstlicher Geschichte. Sie reichen vom libanesischen Bürgerkrieg in den siebziger Jahren bis zur libyschen Revolution von 2011.

Vergangene Woche wurde Hannibal al-Gaddafi im Libanon entführt. Gaddafi ist einer der Söhne des berüchtigten libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi, den sein Volk 2011 von der Macht verjagte. Hannibal soll unter einem Vorwand in den Libanon gelockt worden sein, um dann von einer Gruppe Bewaffneter verschleppt zu werden. Wenige Tage später erschien der Entführte dann im libanesischen Fernsehen.

Der Sender berichtete, Gaddafi sei von Mitgliedern der schiitischen Amal-Miliz entführt worden. Die Tortur war Gaddafi anzusehen, er sah übernächtigt aus und war offensichtlich misshandelt worden. Dennoch erklärte er, er sei bei guter Gesundheit und in den Händen "gottesfürchtiger Menschen". Und: Er appellierte an "alle, die Beweise im Fall Musa as-Sadr haben, sie ohne Zögern zu präsentieren".

Die Entführer wollten etwas aufklären

Musa as-Sadr, der berühmte Geistliche, ist der eigentliche Protagonist der Geschichte. Die Kidnapper hatten den Geschäftsmann al-Gaddafi augenscheinlich nicht entführt, um sich zu bereichern. Sie wollten den Fall as-Sadr aufklären. Noch am Freitag wurde Gaddafi den libanesischen Behörden übergeben, wo er sich seither aufhält, ist unklar. Am Montag dann erließ ein libanesischer Untersuchungsrichter Haftbefehl gegen Gaddafi. Auch die Justiz, so scheint es, beschäftigt sich mit dem Verschwinden des libanesischen Geistlichen.

Gaddafi, so glaubt man im Libanon, könne etwas darüber wissen. Denn "Imam Musa", wie die Libanesen as-Sadr respektvoll nennen, verschwand 1978 bei einer Reise nach Libyen. Viele Schiiten glauben, dass Hannibals Vater ihn ermorden ließ.

Um zu verstehen, warum dieser vermeintliche Mord bis heute so sehr die Gemüter erregt, dass man dafür einen Mann entführt, der zum Zeitpunkt des Verschwindens noch keine drei Jahre alt war, muss man wissen, wer "Imam Musa" ist. Bis heute ziert sein Konterfei unzählige Poster im Libanon, im Internet kann man sich lange Dokumentation ansehen, die sein Verschwinden erläutern.

Für die libanesischen Schiiten ist der Imam eine Art Nationalheiliger. As-Sadr, groß, charismatisch, gutaussehend, kam in den fünfziger Jahren aus seinem Heimatland Iran in den Libanon. Binnen weniger Jahre arbeitete er sich zum Führer der Schiiten hoch, die im streng konfessionell organisierten Machtgefüge des Libanon bis dahin wenig zu sagen hatten. Traditionell besetzten die ärmeren, ungebildeteren Schiiten nur unbedeutsame politische Ämter wie das des Parlamentssprechers. Der Großteil lebte als Bauern in quasi-feudaler Abhängigkeit von einigen reichen Gutsherren.

As-Sadr gründete den Obersten Rat der Schiiten

As-Sadr wollte das ändern. Er gründete den Obersten Rat der Schiiten und setzte sich für mehr Mitbestimmung ein. Er versuchte, die soziale und wirtschaftliche Rückständigkeit der Schiiten zu beenden, gründete Ausbildungszentren, Waisenhäuser und theologische Lernstätten.

Doch as-Sadr war nicht nur ein Vorkämpfer für die Schiiten. Mit seiner "Bewegung der Entrechteten" verdiente sich as-Sadr nach 1974 auch über konfessionelle Grenzen hinweg Respekt. Er predigte in christlichen Kirchen und versuchte den 1975 ausgebrochenen Bürgerkrieg zu beenden.

Bei Christen soll er so beliebt gewesen sein, dass sie ihn sogar mit dem muslimischen Glaubensruf "Allahu Akbar" (Gott ist groß) begrüßten. Mit dieser Geschichte wird sein Weggefährte Abdullah Yazbek im US-Magazin Time zitiert. "Die Menschen behandelten ihn als wäre er Jesus Christus." Aus der "Bewegung der Entrechteten" wuchs später auch der bewaffnete Arm der Amal-Bewegung - eben jene Miliz, deren Anhänger nun Gaddafi junior entführt haben sollen.

Die Mythen, die sich um das Verschwinden des "Imam Musa" ranken, sind so langlebig wie zahlreich. Am 31. August 1978, kurz vor einem Treffen mit dem libyschen Präsidenten, soll sich as-Sadr von einem Hotelportier mit den Worten verabschiedet haben: "Ich bin auf dem Weg zu Gaddafi". Kurz darauf verschwand er.

Das libysche Regime gab sich stets unwissend, erklärte, die libanesische Gesandtschaft sei nach Rom weitergeflogen. Die italienische Regierung bestritt dies, die drei Männer hätten das Flugzeug nie bestiegen.

Bis heute weiß keiner, was mit as-Sadr passiert ist

Was wirklich passiert ist an jenem 31. August 1978 wird vielleicht nie aufgeklärt werden. In seinem Buch "The Vanished Imam" zitiert der Historiker Fouad Ajami US-amerikanische Geheimdienstdepeschen. Ihnen zufolge kam es zwischen as-Sadr und Gaddafis Gefolgsleuten zum Streit. As-Sadr habe einen tödlichen Schlag erlitten.

Anders klingen die Geschichten, die Gaddafis eigene Weggefährten erzählen, seit der Diktator im Frühjahr 2011 von der Macht vertrieben wurde. Bereits im Februar 2011 sagte Abdel-Monem al-Houni der panarabischen Zeitung Al Hayat, Gaddafi habe den Imam töten lassen. Danach habe er die Leiche in einem Privatjet ins südlibysche Sabha fliegen und dort vergraben lassen. Al-Houni ist kein unbedeutender Mann: 1969 half er Gaddafi in einem Putsch an die Macht zu kommen, später war er der libysche Gesandte bei der Arabischen Liga.

Ahmed Ramadan, ehemaliger Geheimdienstchef von Gaddafi, erklärte 2011 dem Sender Al-Alan, dass Gaddafi zweieinhalb Stunden lang mit as-Sadr geredet habe. "Danach ist er aus seinem Büro gekommen und hat gesagt: "Take them." Er lässt wenig Zweifel daran, wie dieses "Bringt sie weg" gemeint war.

Genauso hartnäckig hält sich das Gerücht, dass as-Sadr noch immer am Leben ist und seit dreißig Jahren in einem Gefängnis vor sich hin vegetiert. Der libysche Dissident Abdul Majid Mansour behauptete dies in der saudischen Zeitung Asharq al-Awsat. Stimmt die Geschichte, wäre as-Sadr heute 87 Jahre alt.

Was auch immer passiert ist: Sollte "Imam Musa" nach fast dreißig Jahren tatsächlich noch einmal in einem lybischen Gefängnis auftauchen, dürfte das für viele Schiiten einem Wunder ziemlich nahe kommen. Und wenn sie nicht damit endet, soll die Entführung des Gaddafi-Sohns dem Fall as-Sadr noch einmal so viel Prominenz verschaffen, dass am Ende ein bisschen mehr Klarheit herrscht.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: