Süddeutsche Zeitung

Energiewende:Abstieg eines Öko-Stars

Die Deutschen wollten früh mit Mülltrennen und Solarparks die Natur und das Klima retten. Doch das Land ist in vielen Bereichen zurückgefallen. Die Geschichte eines Selbstbetrugs.

Von Michael Bauchmüller

Stünde in einem Koalitionsvertrag die Wahrheit, dann müsste in Deutschland eigentlich kein Schüler mehr auf die Straße gehen. Neun Mal haben Union und SPD in ihrer Vereinbarung untergebracht, wo überall man angeblich Vorreiter ist, so oft wie keine Koalition zuvor. "Wir übernehmen eine Vorreiterrolle beim Tierwohl", steht da etwa zu lesen. Oder, wahrhaftig: "Wir bleiben Vorreiter beim Klimaschutz." Auch bei der Energiewende hat sich die Regierung ganz selbstbewusst die "Vorreiterrolle" in den Vertrag geschrieben. Deutschland strahlt da als führende Nation im Umweltschutz - aber Tausende Schüler verlangen jeden Freitag lautstark mehr Umweltschutz oder campieren an diesem Wochenende aus Protest gegen die Klimapolitik am Kanzleramt: Wer liegt da falsch?

Jahrelang galt die deutsche Vorreiterrolle im Umweltschutz als unumstößliche Gewissheit. Umweltgruppen nutzten sie als Ansporn für mehr. Wer sich einmal an die Spitze der Bewegung gesetzt hat, der darf diesen Platz ja nicht verlieren. Immer wieder warnten sie, Deutschland dürfe diese Rolle nicht verspielen. Andere schufen dagegen das Bild vom zwanghaften Umwelt-Streber. Sie zeichneten die Bundesrepublik als Land, das ständig strengere Regeln aufstellt als eigentlich nötig, so die eigene Wettbewerbsfähigkeit schwächt und Unternehmen vertreibt. Vor allem die Industrie argumentierte so. Träfe das zu, sie hätte schon dreimal komplett ausgewandert sein müssen. Keine von beiden Seiten hatte recht, aber zurück blieb dieser eine Eindruck: Bei der Umwelt macht uns Deutschen so schnell keiner was vor. Was für ein Irrtum.

Einst sahen sich deutsche Minister im Ausland umringt von staunenden Kollegen

Die Geschichte deutscher Umweltpolitik ist in vielerlei Hinsicht eine Geschichte des Selbstbetrugs. Anfang der Neunzigerjahre schuf der damalige Umweltminister Klaus Töpfer (CDU) ein eigenes Sammelsystem für Verpackungsabfälle, die Deutschen wurden zu einem Volk der Mülltrenner. Das war eine große Leistung Töpfers, nur am Plastikmüll selbst änderte sie nichts. Allein die Menge an Plastikverpackungen hat sich seither fast verdoppelt. 38 Kilogramm Plastikmüll je Bundesbürger zählt der jüngste Plastikatlas der Heinrich-Böll-Stiftung - im EU-Durchschnitt sind es 24 Kilo. "Die Leute haben gedacht, alles ist geregelt - dann kann ich ja weiter wie wild Plastik verbrauchen", sagt der Soziologe Ortwin Renn, der das Potsdamer Nachhaltigkeitsinstitut IASS leitet. "Und jetzt kommt der große Aufschrei, weil Plastik im Meer ist." Viele Jugendliche, die nun freitags auf den Straßen sind, hatte auch das aufgerüttelt. Die Reste ihres Konsums landen in Mägen von Vögeln, Schildkröten und Walen. Irgendwann musste der Selbstbetrug auffliegen.

Dieses Schicksal ereilt auch die jüngste deutsche Glanzleistung, die Energiewende. Ein Industrieland, das massiv mobilisiert für den Ausbau erneuerbarer Energien - das war tatsächlich ein Paukenschlag. Im Ausland sahen sich deutsche Regierungsmitglieder umringt von staunenden Kollegen, und im Inland erfreuten sich Umweltbewegte an immer neuen Windrädern und Solarparks. Wenn das kein Beispiel für die Welt ist. Das war und ist es auch - aber vor lauter Freude über den stürmischen Einstieg in die grüne Energie vergaßen die Deutschen den Ausstieg aus der schmutzig-grauen.

Die Folge: Zwar wuchs der Ökostrom-Anteil von Jahr zu Jahr. Doch Braunkohle-Kraftwerke produzierten Strom wie gehabt, jetzt allerdings für den Export. Für den Klimaschutz brachte die Energiewende so jahrelang nichts. "Wir hatten einfach unterschätzt, wie wirtschaftlich die Kohlekraftwerke immer noch sind", sagt Soziologe Renn, der 2011 Mitglied jener Ethikkommission war, die mit dem Atomausstieg auch die Energiewende endgültig auf den Weg brachte. Und nimmt man nicht nur die Stromerzeugung als Maßstab, sondern den Anteil der Erneuerbaren am gesamten Energieverbrauch, liegt Deutschland heute im hinteren Mittelfeld - auch wegen der vielen Autos, die immer mehr werden. Von wegen Vorreiter. "In manchen Bereichen sind wir noch gut dabei", sagt Renn. "Aber die Vorreiterrolle haben wir verloren." Skandinavische Länder, Frankreich oder Großbritannien seien vorbeigezogen.

Anfang dieser Woche hastet die Kanzlerin in ein Berliner Kongresszentrum. Angela Merkel ist spät dran für ihre Rede beim Rat für Nachhaltige Entwicklung. Sie spricht hier schon seit Jahren, sie will sich den Termin nicht entgehen lassen. Nachhaltigkeit liegt der Kanzlerin am Herzen, aber sie selbst muss einräumen: Da ist längst nicht alles gut. Ein "durchaus gemischtes Bild" ergebe die Analyse für Deutschland, sagt sie. Aber man mühe sich natürlich, im Großen wie im Kleinen.

Das Statistische Bundesamt erhebt anhand von 66 Indikatoren, wie es um Umwelt und nachhaltige Entwicklung im Land steht. Der Anteil des Ökolandbaus zählt dazu, der Überschuss an Stickstoff auf Äckern, Luftschadstoffe und CO₂-Emissionen, aber auch Raucherquoten und Ungleichheit. Der Anschaulichkeit halber verteilen die Statistiker in dem Bericht Sonnen, wenn es gut läuft, Missstände kennzeichnen Wolken, Blitz und Donner. Wäre es ein Wetterbericht, sollte man nicht ohne Schirm aus dem Haus gehen. Merkel sagt es so: "Es bleibt also viel zu tun."

Solange es darum ging, etwas zu entwickeln und zu verkaufen, war man Spitze

Nicht alles ist schlecht. Die Luft in den Städten ist besser geworden. Die Wirtschaft holt immer mehr raus aus den Rohstoffen. Flüsse und Seen sind sauberer als früher. Vor allem dort haben sich die Dinge zum Besseren gewendet, wo das mit Technik zu bewerkstelligen war. Bei diesem "technischen Umweltschutz", bei Rauchgasentschwefelung, bei Katalysatoren, Kläranlagen, erneuerbaren Energien - da zählte Deutschland tatsächlich häufig zu den Vorreitern. "Diese ökologische Modernisierung war ein Paradies der Machbarkeit", sagt Martin Jänicke, lange Jahre Chef der Forschungsstelle für Umweltpolitik an der Freien Universität Berlin. "Tatsächlich waren wir das erste Land, das gesagt hat: Umweltschutz ist gut für die Ökonomie." Klar: Solange es darum ging, etwas zu entwickeln und zu verkaufen, war man Spitze. Sobald es aber anstand, Schädliches einzuschränken, war der Wille schnell erlahmt. Weil aber selbst dieser Fortschritt oft heftig umstritten war, nährte er das Gefühl vieler Deutschen, zur Avantgarde zu zählen. Je härter Umweltpolitik umkämpft war, desto stolzer machte das Erreichte.

Den gefräßigen Feind allen Fortschritts aber hatte keiner auf dem Schirm: den Drang nach immer mehr. Die Industrie etwa hat in den vergangenen Jahrzehnten massiv in effizientere Verfahren investiert. Doch gleichzeitig bewirkten Wachstum und Exportrekorde, dass immer mehr produziert wurde. Unter dem Strich änderte sich damit so gut wie nichts. Autos sind immer sparsamer geworden - auch durch härtere EU-Standards. Doch gleichzeitig wurden die Autos größer und es wurden immer mehr. Der Umwelteffekt: gleich null.

Die Landwirte düngen heute oft zielgenauer und damit eigentlich schonender. "Weil aber die landwirtschaftliche Produktion zunimmt, auch weil weltweit immer mehr Fleisch gegessen wird, gerät am Ende nicht weniger, sondern gleich viel Dünger in die Umwelt", sagt Knut Ehlers, Agrarexperte beim Umweltbundesamt. Ähnlich ist es beim Plastikmüll. Es wird zwar mehr recycelt, aber die Menge des Plastikabfalls insgesamt wächst eben auch. Dieser Effekt macht vieles von dem zunichte, was zuvor mühsam für die Umwelt erstritten wurde.

Umweltschutz durch bessere Technik wird so häufig ebenfalls zum Selbstbetrug - und verdrängt andere Probleme aus dem Blickfeld. "Die schwierigen Themen, die mit technischem Umweltschutz nicht zu erreichen sind, die sind immer mehr in den Hintergrund getreten", sagt Jänicke. Der Verlust von Arten etwa oder die Folgen intensiver Landwirtschaft für die Natur, für Grundwasser, Flüsse und Seen. Hier herrscht seit Jahren Stillstand - obwohl das viele Bürger bewegt. "Über mangelnde Beachtung können wir nicht klagen", sagt Beate Jessel, die Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz, "gerade auch, weil der Naturschutz immer für schöne Bilder gut ist." Nur blieb es ohne Folgen.

"Auf dem Papier sind wir tatsächlich Vorreiter. Aber leider nur da."

So zählt Deutschland zu den Ländern, die besonders viele Meeresgebiete unter Schutz gestellt haben. "Auf dem Papier sind wir da tatsächlich Vorreiter", sagt Jessel. "Aber leider nur da." Sobald es an die sogenannten Management-Pläne gehe, mit denen der Meeresschutz praktisch umgesetzt wird, begännen die Probleme. "Komplexe Verständigungsprozesse" nennt Jessel das. Da wollen etwa die Fischerei-Vertreter mitreden oder die für Schifffahrt zuständigen Ministerien. Nur so ist auch zu erklären, dass in der intensiven Landwirtschaft, verantwortlich für einen großen Teil deutscher Umweltprobleme, so wenig geschieht. Die hat schließlich ein eigenes Ministerium. Keine andere Branche kann sich so glücklich schätzen.

Wird nun alles anders? Es ist lange her, dass so viele Menschen für die Umwelt auf die Straße gingen, nie zuvor waren die Grünen so stark. Allerdings haben sich Umweltpolitik und -bewusstsein in Deutschland nie stetig entwickelt, sondern immer in Sprüngen. Mit Willy Brandt kamen in den frühen Siebzigerjahren die ersten Umweltprogramme. Doch das aufkeimende Bewusstsein, dass rauchende Schlote nicht nur Wohlstand, sondern auch Probleme bringen, erstickte kurz darauf eine Wirtschaftskrise. In den Achtzigern, den Anfängen der Grünen und einer breiten Umweltbewegung, erschütterten die Probleme selbst die Regierung Kohl, das Waldsterben und der Gau in Tschernobyl stießen so einiges an. Dokumente von damals, etwa die Berichte zweier Enquete-Kommissionen des Bundestages, lesen sich heute wie Anleitungen zu einer ökologischen Revolution. Als sie erschienen, interessierte das aber kaum noch jemanden. Mit der Wiedervereinigung hatten die Deutschen plötzlich andere Prioritäten.

Als das Umweltbundesamt kürzlich die Prioritäten der Deutschen abfragte, zählten fast zwei Drittel der Befragten die Umwelt zu den wichtigsten Themen, neben sozialer Gerechtigkeit und Bildung. Das ist ein Wert so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr. Er könnte das Fundament dafür sein, wieder zum Umwelt-Vorreiter aufzusteigen - diesmal nicht nur auf dem Papier oder im Koalitionsvertrag. In eine Position, die sich nicht nur nach dem politisch Vertretbaren, sondern nach dem ökologisch Nötigen richtet. Der größte Selbstbetrug von allen aber müsste dafür auffliegen. Dass sich alles zum Besseren ändern lässt, ohne dass irgendwer seinen Lebensstil ändern muss.

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Quelle:
SZ vom 08.06.2019
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