Süddeutsche Zeitung

Energiepolitik nach der Katastrophe:Vergessene Ruinen

Super-GAU ohne Folgen? Nach der Atomkatastrophe von Fukushima schien der Glaube an die Beherrschbarkeit der Nukleartechnik gebrochen zu sein. Doch nun, ein Jahr danach, erweist sich: Länder wie China und Indien setzen weiter auf die Atomenergie. Selbst Japans Regierung will Meiler wieder anfahren.

Paul-Anton Krüger

Betongrau ragen die beiden Reaktorkuppeln in das Blau des Himmels, das am Horizont mit dem Meer verschwimmt. Gerüste mit Holzgeländern kleben wie Schwalbennester an den Mauern der Kraftwerksblöcke, auch sie aus dickem Beton. Ein riesiger Kran hievt Stahlarmierungen durch die Luft, Arbeiter in grau-blauen Overalls und leuchtenden Warnwesten wuseln über die Baustelle. Vor nicht einmal vier Jahren war hier noch grüne Wiese. Heute sind die Atommeiler Shin-Kori 3 und 4 zu mehr als 90 Prozent fertiggebaut. Shin heißt neu. Kori ist ein Ort zwischen der Hafenstadt Busan und der Industriemetropole Ulsan.

Hier ist die Wiege der südkoreanischen Atomindustrie; eine Bucht weiter ging 1978 das erste Atomkraftwerk ans Netz, Kori 1. Und hier baut Korea Hydro & Nuclear Power an der glorreichen Zukunft der südkoreanischen Atomindustrie. Davon ist Lee Jae-Won überzeugt, der für den staatlichen Nuklearkonzern über das Prestigeprojekt wacht. Sieben Blöcke sollen bis 2020 fertig sein. In den Vereinigten Arabischen Emiraten hat Südkorea seinen ersten Exportauftrag ergattert - und zum Stolz der Atommanager wie der Regierung die Nuklearnation Frankreich ausgestochen.

Nur knapp 1100 Kilometer Luftlinie nordöstlich kämpfen sich Arbeiter in Schutzanzügen durch die strahlenden Ruinen von Fukushima. Drei bis vier Jahrzehnte werden die Aufräumarbeiten am Ort des schwersten Atomunfalls seit Tschernobyl dauern. Doch nur ein Jahr, nachdem die Katastrophe dort ihren Lauf nahm, glaubt man sich in Shin-Kori in einer anderen Welt.

Ja, alle 21 laufenden Reaktoren in Südkorea seien untersucht worden, berichtet Herr Lee - und 17 sicherheitsrelevante Verbesserungen umgesetzt. Aber so etwas wie in Fukushima, da ist er sich sicher, könne in Shin-Kori nicht passieren. "Ausgeschlossen!" Die Kühlsysteme des in Korea entwickelten 1400-Megawatt-Reaktors seien besser, so schwere Erdbeben wie in Japan habe es nie gegeben in Korea - und Killer-Tsunamis schon gar nicht.

Die Technikgläubigkeit und der demonstrative Optimismus mögen in diesem auf Dynamik fixierten Land besonders ausgeprägt sein, doch hat die Reaktor-Havarie von Fukushima auch weltweit betrachtet nicht zu einer Abkehr von der Atomenergie geführt. 64 Reaktoren waren laut der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA zum Stichtag 31. Dezember 2011 in Bau, 26 in China, zehn in Russland, sechs in Indien und fünf in Südkorea. "Die deutsche Reaktion der Energiewende wird international eher mit Verwunderung aufgenommen", konstatiert Hans-Holger Rogner, der als Abteilungsleiter bei der IAEA weltweit die Planung von Atomanlagen verfolgt.

Zwei Projektionen berechnet seine Behörde, um den Stand der Atomenergie im Jahr 2030 vorzusagen. Nach Fukushima sind sie um sieben bis acht Prozent niedriger als vor der Katastrophe, aber selbst das konservativere Szenario geht davon aus, dass die installierte Leistung von heute 367 Gigawatt auf 501 Gigawatt steigen wird. Die Zahl der in Betrieb befindlichen Reaktoren würde von heute 435 um 90 auf 525 steigen, in der hohen Projektion kämen sogar netto 350 weitere Blöcke hinzu.

Die meisten anderen Prognosen, etwa der industrienahen World Nuclear Association oder der Internationalen Energieagentur, kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Beide haben aber auch Projektionen vorgelegt, die eine Stagnation oder gar einen Rückgang erwarten lassen. Sie gehen jedoch von der Annahme aus, dass sich die politischen Voraussetzungen für den Bau neuer Meiler weltweit drastisch verschlechtern. Die Industrieländer würden dann nur in Bau befindliche Reaktoren fertigstellen und die Schwellenländer nur die Hälfte der avisierten Meiler bauen.

IAEA-Mann Rogner hält dagegen, an den Gründen für das Interesse an Atomenergie habe sich durch Fukushima nichts geändert: "die steigende Energienachfrage vor allem in den Schwellenländern, Energiesicherheit, die volatilen Preise für fossile Brennstoffe und der Klimawandel". Zudem verdichtet sich international die Wahrnehmung, die Katastrophe wäre zu vermeiden gewesen, hätte das Hightech-Land Japan sich an die Sicherheitsstandards gehalten und eine effektive Atomaufsicht gehabt, statt eines Interessenkartells aus Industrie und Politik.

So gab es - anders als in Europas Meilern - in Fukushima keine Rekombinatoren: Geräte, die vielleicht die verheerenden Wasserstoffexplosionen hätten verhindern können. Auch dass der Tsunami-Schutz nicht reichte, war dem Betreiber Tepco klar - nur spielte er auf Zeit und scheute die nötigen Investitionen.

Tschechien erwägt Temelin-Ausbau aufzugeben

In Wirklichkeit ist das Bild weit komplexer, als es die Zahlen ahnen lassen: China hat die Genehmigung neuer Blöcke auf Eis gelegt; es lässt alle Standorte erneut auf Erdbebenanfälligkeit und Überflutungsrisiko prüfen und erwägt zudem, Reaktoren eines selbstentwickelten Designs aus Sicherheitsgründen durch importierte Modelle zu ersetzen. Dem Land geht es nicht primär darum, die Kernenergie auszubauen, sondern seinen Energiebedarf zu decken. Der nukleare Anteil daran wächst selbst beim Bau 80 neuer Meiler bis 2020 nur von heute weniger als zwei auf knapp fünf Prozent.

In Japan sind derzeit 52 von 54 Blöcke außer Betrieb. Vier in Fukushima sind zerstört, sechs weitere an den beiden Standorten dort abgeschaltet, ebenso sieben weitere Reaktoren an der Ostküste. Aber es ist völlig unklar, wie viele der 35 Meiler, die derzeit offiziell für Inspektionen abgeschaltet sind, jemals wieder ans Netz gehen. Selbst Frankreich erwägt, den Anteil der Atomkraft an der Stromerzeugung zu verringern.

Hinzu kommt, dass vor allem in westlichen Industrieländern die Milliardeninvestitionen für neue Reaktoren ohne massive Subventionen nicht mehr zu finanzieren sind; Tschechien etwa erwägt deshalb den Ausbau von Temelin aufzugeben. Der Zuwachs ist begrenzt vor allem auf Schwellenländer, die bereits eine Nuklearindustrie haben. Auch macht die Erschließung neuer, großer Schiefergasvorkommen Gaskraftwerke wieder attraktiver. Und nicht zuletzt ist seit Fukushima weltweit die öffentliche Zustimmung zur Nutzung von Atomenergie rückläufig. Am stärksten brach sie in Südkorea ein. Davon aber sagt Herr Lee nichts.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1305343
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 10.03.2012/ros
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.