Süddeutsche Zeitung

Umweltpolitik:Kohlechaos - im Hambacher Forst und in Berlin

  • Die Braunkohlegegner im Hambacher Forst halten die Polizei auf Trab.
  • Mindestens 4000 Demonstranten protestierten am Sonntag gegen die Abholzung. 14 Menschen wurden festgenommen, acht verletzt.
  • Gleichzeitig ist eine Debatte über den Zeitplan für den Kohleausstieg entbrannt: Der Ko-Vorsitzende der von der Bundesregierung eingesetzten Kohlekommission, Ronald Pofalla, legt ein Konzept vor, wonach zwischen 2035 und 2038 die letzten Kohlekraftwerke in Deutschland geschlossen werden sollen.

Von Michael Bauchmüller, Berlin, und Christian Wernicke, Düsseldorf

Am Sonntag machen sich Tausende Kohlegegner auf den Weg zum Hambacher Forst, aber der größte Aufruhr findet woanders statt: in Berlin. Dort hat die Kohlekommission sich bisher von Sitzung zu Sitzung gequält, ohne ihrem Ziel wirklich näher zu kommen. Schon in drei Monaten soll sie darlegen, bis wann und wie Deutschland auf Kohlestrom verzichten könnte, ohne betroffene Regionen zu überfordern. Doch plötzlich steht da ein Ausstiegsplan im Raum, forciert angeblich von einem der vier Vorsitzenden der Kommission, dem einstigen Kanzleramtschef Ronald Pofalla. Und die ganze Kommission steht Kopf.

Der Spiegel hatte über einen solchen Vorstoß Pofallas berichtet, er habe nach Sondierungen in Kommission und Regierung bereits einen Fahrplan für den Ausstieg vorbereitet. In einem ersten Schritt sollten Kohlekraftwerke mit einer Leistung von zusammen fünf bis sieben Gigawatt vom Netz gehen, schon bis 2020. Das entspräche fünf bis sieben großen Kraftwerken.

Zwischen 2035 und 2038 sollten dann die letzten Anlagen ihren Dienst einstellen. Bis dahin sollen betroffene Regionen, allen voran Lausitz und Rheinland, in den Genuss neuer Infrastruktur kommen und neuer Jobs der öffentlichen Hand. Nur: Einen derart konkreten Plan kennt niemand aus der Kommission, nicht einmal im Kreis ihrer Vorsitzenden. "Es hat Gespräche gegeben", heißt es aus dem Umweltministerium. "Aber uns liegt nichts Schriftliches vor." So ähnlich klingt das bei vielen Mitgliedern des 28-köpfigen Gremiums.

"Maximale Verärgerung"

Die Nachricht von einem möglichen Alleingang Pofallas hat dort die Stimmung noch einmal massiv gedrückt. Schon vorher habe es zwischen den vier Vorsitzenden, neben dem Bahnvorstand Pofalla die einstigen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich und Matthias Platzeck sowie die Wissenschaftlerin Barbara Praetorius, kaum eine Abstimmung gegeben. Nun berichten Mitglieder von "maximaler Verärgerung", und das gleichermaßen bei Umweltverbänden, Gewerkschaften und Energiewirtschaft. Es entstehe der Eindruck von Deals in Hinterzimmern, warnt Michael Vassiliadis, Chef der Bergbau-Gewerkschaft IG BCE. Mit solchen Ausstiegsszenarien kappe Pofalla "fahrlässig das zarte Pflänzchen des Vertrauens, das sich in dem Gremium gerade erst gebildet hatte".

Greenpeace zeigt sich "irritiert", der RWE-Konzern nennt einen Ausstieg bis 2038 "nicht akzeptabel". Die Lage in und um die Kohlekommission ist noch chaotischer als rund um den Hambacher Wald, den RWE für Braunkohle roden lassen will.

Dort protestierten am Sonntag Tausende Menschen, darunter viele Familien mit Kindern, gegen die Räumung des besetzten Waldes und die geplante Abholzung. Die Veranstalter sprachen von 9000 Teilnehmern, die Polizei schätzte 4000 bis 5000 Demonstranten. 14 Menschen wurden nach Polizeiangaben festgenommen, acht verletzt, darunter drei Polizisten. Einige Teilnehmer pflanzten bei diesem sogenannten "Waldspaziergang" mitgebrachte Bäume.

Mit einem massiven Einsatz versuchte die Polizei den Zugang zum 200 Hektar großen Wald zu versperren, um eine Rückkehr von Umweltaktivisten ins Gehölz zu verhindern. Dennoch gelang es mehr als 200 Demonstranten, in den Forst vorzudringen. Weitere Aktivisten stoppte die Polizei mit Schlagstöcken und Tränengas. Im Wald kam es bis zum Abend zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Protestierenden. Am Samstag waren bei ähnlichen Konfrontationen neun Umweltaktivisten verletzt worden. Nach Angabe des Polizeipräsidiums Aachen wurden seit Beginn der Räumung 34 Personen festgenommen, darunter etliche Bewohner von Baumhäusern. Die Behörden hatten bis Sonntag 27 der 51 von ihnen identifizierten Baumhäuser geräumt. Um Kranwagen und Baggern den Weg zu den Baumhäusern zu ebnen, ließ die Polizei auch Bäume fällen. Laut Gesetz darf erst ab dem 1. Oktober gerodet werden. Am Samstag war es zudem Öko-Aktivisten gelungen, stundenlang einige Bagger und Förderbänder im Braunkohle-Tagebau zu besetzen. Wegen fehlender Kohle musste der Stromkonzern RWE sämtliche Blöcke seines Kraftwerks Niederaußem vorübergehend herunterfahren.

Dramatische Aktion

Dramatisch verlief eine Aktion zweier langjähriger Waldbesetzer, die sich in einem Erdloch versteckt hatten. Sie wollten so die Räumung ihres Baumhaus-Dorfes "Oaktown", eine der ältesten Siedlungen im Forst, verzögern. Experten der Grubenwehr hielten den bis zu zehn Meter tiefen Stollen für einsturzgefährdet. Zudem stellte die Feuerwehr eine lebensgefährliche Konzentration von Kohlendioxid fest. Am frühen Sonntagmorgen konnten die beiden überzeugt werden, ihr Versteck zu verlassen. Nach Tagesanbruch versuchten Spezialkräfte, die letzten Baumhäuser in Oaktown zu räumen.

Die Konfrontation im Wald belastet auch die Kohlekommission. Sie tritt am Dienstag wieder zusammen, die Atmosphäre ist aufgeheizt. Pofalla, so verlangen Gewerkschaften wie Umweltverbände, müsse sich nun dringend erklären. Dabei hatte der sich für Dienstag schon entschuldigen lassen.

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Quelle:
SZ vom 17.09.2018/lala
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