Süddeutsche Zeitung

Endstation Hauptschule:Jugend ohne Traum

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Einige schreiben Loser auf ihr Namensschild: Ein Tag in der neunten Klasse einer Münchner Hauptschule.

Alex Rühle

Vierte Stunde. In GSE redet die neunte Klasse heute über Berufsziele. Frau Zeitler bittet ihre Schüler, drauflos zu phantasieren: "Was würdet ihr gerne werden?" Die Klasse antwortet mit verdruckstem Schweigen. "Na, wovon träumt ihr?"

Als Giuliano schließlich sagt: "Ich möchte in einem Büro sitzen, als Abteilungsleiter", lachen alle. "Das ist doch ein Wunschtraum", verteidigt sich der riesige Schlaks. Als weitere Wunschträume werden genannt: Bürokauffrau, Mechaniker, Meister bei BWM. Klingt nicht nach Wolkenkuckucksheim.

16 von 21 haben keine Chance auf ihren Traumberuf

Ist es aber: Die Arbeitsagentur bietet neuerdings deutschlandweit einen Berufswahltest an, der vom Computer ausgewertet wird. Frau Zeitlers Schüler haben den Test gemacht. 16 der 21 Schüler bekamen attestiert, dass sie in dem von ihnen angegebenen Beruf keine Chance haben.

Als Zeitler fragt, ob jemand auf eine seiner Bewerbungen eine Einladung zu einem Gespräch bekommen habe, schweigen wieder alle. Nur Göksu hat was in Aussicht, im Friseursalon ihres Onkels. "Freut ihr euch auf die Zeit nach der Schule oder habt ihr Bammel?" Bammel. Das Wort läuft halb vermurmelt durch die Reihen. Bammel. Was denn sonst?

München-Neuaubing, die Hauptschule an der Wiesentfelserstraße. Der Betonriegel am Stadtrand ist ein echtes Weltmeisterprodukt, made in Germany, so was gibt es nirgends sonst, das haben schon Pisa I und Pisa II in drastischen Worten ausgestellt: Kein anderes Bildungssystem im Vergleich der 31 Industrienationen versagt bei der schulischen Förderung von Kindern aus dem unteren Milieu so wie das deutsche.

Ein Viertel aller deutschen Schüler

Kürzlich erst forderte Klaus Hurrelmann, Mitherausgeber der Shell-Jugendstudie, in einem Brief an die Kultusminister: "Sie dürfen es nicht weiter gestatten, dem Viertel der Schülerschaft, das heute die Hauptschulen besucht, von vornherein eine ungünstige oder aussichtslose Ausgangsposition am Ausbildungs- und Berufsmarkt zuzuweisen."

Die jüngste Shell-Studie belege, dass die Hauptschüler deutschlandweit wissen, wie gering ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind. Einige Schüler in Neuaubing schreiben in das Namensfeld auf ihren Heften einfach Loser.

Wir waren schon mal in dieser Schule, vor zwei Jahren. Aus den Kindern der damaligen siebten Klasse sind Jugendliche geworden, die in ein paar Monaten ihren Abschluss machen sollen.

Nett, frech, lustig

Die Atmosphäre ist etwas bedrückt, aber sie hat nichts von Rütli-Grusel; die Jugendlichen sind nett, frech, lustig, sie grüßen ihre Lehrer und machen halbwegs mit im Unterricht. Mächtig viel Testosteron ist unterwegs im Klassenzimmer, gleichzeitig sitzen immer noch Kinder in den Bänken. Kinder mit Schuhgröße 45 und iPod im Ohr.

In der Pause kommt Frau Meier im Lehrerzimmer vorbei. Sie arbeitet an der nahegelegenen Förderschule und kümmert sich hier um ehemalige Förderschüler, die jetzt die Hauptschule besuchen dürfen. Und, schaffen die das denn? Kommen die mit? Frau Meier lächelt verhalten und sagt dann: "Die zählen hier zu den Besten."

Im Klartext: Der größte Teil der Hauptschüler wäre auf der Förderschule besser aufgehoben. Aber zum einen darf es in Bayern nicht mehr Förderschüler geben, das würde sich in den Pisa-relevanten Bilanzen nicht gut machen. Außerdem weigern sich die meisten Eltern, ihre Kinder auf die Förderschule zu schicken, weil sie glauben, dass die dort noch weniger Chancen hätten.

Was heißt das Wort "peinlich"?

So sitzen sie hier im Deutschunterricht und fragen, was denn das Wort "peinlich" bedeute. Die Klasse hat ein Gleichnis über den Teufel gelesen. Am Rand werden die schwierigen Wörter des Textes erklärt. Schwierige Wörter sind in der neunten Klasse: begehren, Vergehen, Übeltat.

Gerade mal fünf der 21 Kinder sprechen zu Hause Deutsch. Die ganze Schule hat einen Migrationshintergrund. So wird institutionell genau das geschaffen, was Ausländern immer vorgeworfen wird: eine Parallelgesellschaft.

Später, im Lehrerzimmer, sagt Zeitler, die Verbalisierung werde jedes Jahr schwieriger. "Die Kinder sind auf eine Art total sprachlos. Die sitzen vor einem Bild und können zehn Minuten lang keinen Satz dazu formulieren." Textarbeiten seien nur noch möglich, wenn man vorab jeden Satz genau bespricht.

Wohlgemerkt: Die Hauptschule an der Wiesentfelserstraße bekam 2004 den Sonderpreis des deutschen Hauptschulpreises. Es gibt hier eine Jugendsozialarbeiterin, Lese- und Berufspaten, eine Bibliothek, und das Projekt Kreativität in der Schule, "das macht die Stadt München freiwillig", sagt Walther.

1600 Lehrer weniger

"Dabei müsste die Stadt gar nichts machen, der Staat ist ja zuständig." Und was macht der Staat? "Kürzen". Der bayerische Freistaat wird im kommenden Lehrjahr 1600 Lehrerstellen an bayerischen Hauptschulen einsparen.

In einem Brief an alle Hauptschuldirektoren deutete der Kultusminister Siegfried Schneider kürzlich die desaströse Situation um. Statt von Stellenabbau sprach er von Weiterentwicklung, statt von gekürzten Deutschstunden vom Neukonzept Modularisierung. Und dann soll es ja noch ein freiwilliges 10. Schuljahr geben!

Für all die Schüler, die noch nicht so reif für einen Beruf sind. Verlängerte Schulzeit ist aber eh längst gängige Praxis. Einige Schüler verlassen die Schule mit dem 11. Schulbesuchsjahr, an ihrer trostlosen Situation ändert das nichts. All die von Schneider angepriesenen Maßnahmen klingen so sinnvoll, als hätte man vor Katrina die Dämme in New Orleans mit Plastikfolie verstärkt.

Das kurzsichtige bildungspolitische Verdrängen des Problems Hauptschule erinnert an das Verhalten der Politik in Sachen Umweltschutz. Der Ökonom Nicholas Stern rechnete kürzlich vor, dass sich die langfristigen Kosten für die globale Erwärmung auf Billionen von Dollars belaufen werden.

Viele teure Gefängnisse

Man kann auch genau ausrechnen, was es den Staat kostet, wenn ein Viertel eines jeden Jahrgangs abgehängt wird. Die Schlote aber rauchen unvermindert weiter. Der Unterricht geht auch weiter. Walther sagt, der Staat, der hier spare, werde auf lange Sicht viele teure Knäste bauen müssen.

Eine freundlich flattrige Dame, die als Lesepatin arbeitet, kommt ins Büro geschneit: "Warum muss ein Hauptschüler das Wort Plusquamperfekt lernen?" "Muss er nicht." "Bei Herrn Karl lernen die das!" "Der Herr Karl hat noch nicht so viel Erfahrung, wir sind froh, wenn sie Vergangenheit von Zukunft unterscheiden können."

Das dialektische Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft kann man an den Hauptschulen auf einen Satz bringen: Seit 2000 entschieden wurde, dass die Realschulen eine fünfte Klasse anbieten, haben die Hauptschüler endgültig keine Zukunft mehr.

Das böse Wort

Seither ist sie vollends Restschule. Das böse Wort, vom ehemaligen Wirtschaftsminister Wolfgang Clement erstmals öffentlich benutzt, ging ins Vokabular der Lehrer über, weil es den Kern trifft: Hier sammelt sich die negative Elite. Jeder weiß es. Jürgen Walther sagt: "Die Hauptschule wird verenden. Die Eltern können sich nicht formieren. Die Schüler werden immer schwieriger. Irgendwann kann man nicht mehr unterrichten."

Die Jugendsozialarbeiterin Birgit Ungar sagt, vor Weihnachten rumore es in den Klassen mehr als sonst. Sie glaubt, dass das eben mit dem "omnipräsenten Fest der Familie" zusammenhängt. Kürzlich war ein 14-Jähriger verschwunden. Als Ungar nach drei Tagen vergeblicher Suche bei der Mutter klingelte, sagte die nur: "Der Wixer soll mir heimkommen."

Fünfte Stunde, Ethik: Die Kinder sitzen über Arbeitsblättern zum Thema Benimm und Manieren. Duygu bearbeitet "Benehmen in Bus und Bahn". Auf dem Blatt wird das Wort Vandalismus extra erklärt: "Leider kann man in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht nur die alltägliche Unhöflichkeiten beobachten, sondern auch Fälle richtiger Zerstö- rungswut." "Was ist denn rungswut?" fragt Duygu.

Kürzlich sprach Zeitler mit ihren Schülern in Ethik über Autorität. Als sie nach Autoritätspersonen fragte, "sind die nicht auf die eigenen Eltern gekommen. Viele Väter üben zwar Gewalt aus. Aber sie haben keine Autorität. 60 Prozent der Eltern sind arbeitslos."

Der erste Urlaub - im Landschulheim

So kritzeln die Schüler eben "Loser" auf die eigenen Hefte. Die Selbsteinschätzung sei in den letzten Jahren enorm gesunken, sagt Frau Zeitler. Der Lebensstandard auch. Früher sind die Klassen zweimal ins Landschulheim gefahren.

Das war für viele der erste und einzige Urlaub. Heute fahren sie gar nicht mehr, das könnten höchstens noch zehn Schüler bezahlen. Wohlgemerkt, die Landschulheime liegen im S-Bahnbereich; die ganze Woche würde 150 Euro kosten.

Und die Schüler, so Zeitler, nutzen jedes Angebot, das ihnen die Schule bietet: "Ich bin mal nachmittags ins Lenbachhaus, ich dachte, da kommt kein Mensch, am Ende standen sogar Kinder vorm Museum, die hatte ich noch nie gesehen. Ein ergreifenderes Plädoyer für die Ganztagesschule kann ich mir nicht vorstellen."

In Deutsch werden Handyverträge gelesen. In Ethik geht es um rudimentäre Umgangsformen. Und in allen Fächern wird Deutsch gelernt. Klaus Hurrelmann schrieb an die Kultusminister, der Hauptschule würden soziale, religiöse, ethnische Integrationsleistungen abverlangt, "die sie mit ihrer heutigen Struktur nicht leisten kann".

Jungen wie Roger

Er schlägt vor, neben dem Gymnasium eine Sekundarschule einzurichten, sie besonders gut auszustatten und ihr eine eigene Oberstufe zu geben. Sagten wir das schon? Der bayerische Staat spart im kommenden Jahr 1600 Lehrstellen an Hauptschulen ein.

2010 werden in deutschen Großstädten die Hälfte der unter 40-Jährigen einen Migrationshintergrund haben. Es wird dann viele Hauptschulen geben, auf denen kein Kind Deutsch spricht.

Es klingelt, die Schule ist aus, Roger hat es eilig, er geht jobben im Blumenladen. Seine Sätze sind kaum zu verstehen. Bis auf sein Deutsch könnte der auf dem Gymnasium mithalten, sagt Zeitler, in Mathe ist er der beste.

Jungen wie Roger sind der lebende Gegenbeweis für die Begabungsideologen, die da sagen, es gebe eben handwerkliche Talente, nicht jeder brauche Abitur. Stimmt. Aber wenn Roger frühzeitig besser Deutsch gelernt hätte, wäre er nicht in sieben Monaten arbeitslos.

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Quelle:
SZ vom 25.11.2006
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