Endphaseverbrechen der Nationalsozialisten:Wer am Endsieg zweifelt, wird gehängt

Standgericht, 1945

Kurzer Prozess mit Kriegsmüden: Ein SS-Offizier verkündet bei einem Standgericht das Urteil gegen Deserteure.

(Foto: SZ Photo)

Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs werden im Deutschen Reich noch einmal unzählige Menschen ermordet: Deserteure, kriegsmüde Zivilisten, KZ-Häftlinge. Es ist die letzte Abrechnung mit Gegnern, denen die Zukunft zu gehören scheint.

Von Barbara Galaktionow

Frühjahr 1945 in Deutschland. Die Truppen der Alliierten dringen auf breiter Front in das Gebiet des Deutschen Reiches ein. Die militärische Niederlage ist abzusehen. Es herrscht Chaos. Doch aufgeben, sich dem Unvermeidlichen fügen und zwar so, dass es nicht mehr Opfer gibt als notwendig? Das kommt für die deutsche Führung nicht infrage - und auch für viele Deutsche nicht.

Die deutsche "Volksgemeinschaft", die sich überlegen über andere wähnt, über Juden, slawische "Untermenschen", aber auch die vermeintlich frivolen Franzosen, will der eigenen Niederlage nicht ins Auge blicken. Grund für den Zusammenbruch könne nicht sein, dass das NS-Weltbild falsch sei, sondern wird auf innere Feinde zurückgeführt - und die gelte es auszumerzen, beschreibt Historiker Sven Keller vom Münchner Institut für Zeitgeschichte die zugrunde liegende Gemütslage.

Es kommt zu Gewaltexzessen an KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern, aber auch an den eigenen "Volksgenossen", an deutschen Soldaten und Zivilisten, die nicht mehr an den propagierten Endsieg glauben wollen. Die Grausamkeit des NS-Regimes lässt sich nicht mehr verdrängen. Sie spielt sich nicht mehr fernab des täglichen Lebens der meisten Deutschen ab - an weit entfernten Frontlinien oder hinter den Zäunen und Mauern der Konzentrations- und Vernichtungslager -, sondern mitten im Kerngebiet des Deutschen Reiches, vor der "Haustüre der Gesellschaft", wie der israelische Historiker Daniel Blatman schreibt.

"Atmosphäre allgemeiner Gewaltermächtigung"

Inmitten der Auflösungserscheinungen des Staates lassen nicht nur SS-Truppen, sondern auch NSDAP-Parteigänger und andere ganz "normale" Bürger ihrem Hass auf echte und vermeintliche Gegner freien Lauf oder versuchen, Zeugen und Opfer der NS-Verbrechen, KZ-Häftlinge und ausländische Zwangsarbeiter auf brachiale Weise zum Verstummen zu bringen.

Die Endphaseverbrechen sind meist nicht im Einzelnen von oben angeordnet, sie finden nicht auf direkten Befehl statt. Doch sie geschehen durchaus im Sinne des Regimes und werden von diesem begünstigt. "Die Führung schafft eine Atmosphäre von allgemeiner Gewaltermächtigung", sagt Keller, der die Eskalation des Terrors am Ende des Dritten Reichs erforscht hat.

Bereits im September 1944 - kurz vor der Einnahme Aachens durch US-Truppen - verfügt Hitler, dass "jeder Bunker, jeder Häuserblock in einer deutschen Stadt und jedes deutsche Dorf (...) zu einer Festung werden" müsse. Es gebe nur noch "Halten der Stellung oder Vernichtung".

1945 werden Standgerichte eingerichtet. Sie sollen alle Taten ahnden "durch die die deutsche Kampfkraft oder Kampfentschlossenheit gefährdet" wird, wie es in der entsprechenden Verordnung vom 15. Februar heißt. Damit soll der befürchteten "Wehrkraftzersetzung" entgegengewirkt werden. Deserteure müssen mit harten Strafen rechnen. Tausende, wenn nicht Zehntausende Soldaten lassen in der Endphase des NS-Regimes so ihr Leben, schätzt Historiker Sven Keller.

Nicht einmal Nazis sind vor dem Terror sicher

Doch nicht nur Soldaten müssen sich davor hüten, in den Ruf von "Defätisten" und "Verrätern" zu kommen, auch Zivilisten werden zum Durchhalten auf Gedeih und Verderb gezwungen. Im Osten des Reiches werden der Bevölkerung gezielte Fluchtvorbereitungen untersagt, trotz des absehbaren Vormarschs der Roten Armee.

Der "Flaggenerlass" des SS-Reichsführers Heinrich Himmlers vom März 1945 sieht drastische Strafen für Deutsche vor, die sich dem Feind ergeben wollen: In Häusern, auf denen eine weiße Fahne gehisst wird, sollen alle Männer ab einem bestimmten Alter erschossen werden.

Selbst auf das Leben der Deutschen nach dem Krieg soll keine Rücksicht mehr genommen werden. Hitler verfügt am 19. März 1945 in seinem sogenannten Nerobefehl eine Politik der verbrannten Erde. Beim Rückzug der Wehrmacht sollen jedwede Infrastruktur und alle Sachwerte, "die sich der Feind für die Fortsetzung seines Kampfes irgendwie sofort oder in absehbarer Zeit nutzbar machen kann", zerstört werden.

Letzte Abrechnung mit den Gegnern

Empathie hat der Führer nur für ein siegreiches Volk. "Wenn das deutsche Volk nicht bereit ist, sich für seine Selbsterhaltung einzusetzen, gut: dann soll es verschwinden", soll er bereits im Januar 1945 im Führerhauptquartier gesagt haben. Was nach dem Kampf übrigbleibe, seien "ohnehin die Minderwertigen; denn die Guten seien gefallen", wird ihn nach dem Krieg Albert Speer zitieren (mehr dazu hier).

Die Unbarmherzigkeit der Führung spiegelt sich auch in der Bevölkerung wider, bei SS-Truppen und der Wehrmacht, aber auch in lokalen NSDAP-Zirkeln, dem Volkssturm oder der Hitlerjugend. NS-Durchhaltefanatiker gehen mit großer Brutalität gegen diejenigen vor, die durch eine Kapitulation unnötiges Blutvergießen vermeiden wollen.

Das Motiv der Mordwut ist häufig politisch, wie der Heidelberger Geschichtsprofessor Edgar Wolfrum schreibt. Das Selbstvertrauen von Kriegs- und Regimegegnern habe überzeugte Nationalsozialisten zum letzten Vernichtungswillen aufgestachelt. Den Triumph eines Untergangs des "Dritten Reiches" sollten sie nicht erleben. "Es ist die letzte Abrechnung mit Gegnern, denen die Zukunft zu gehören scheint", sagt Sven Keller.

In Ansbach wird der noch nicht einmal 20-jährige Kriegsgegner Robert Limpert von einem Luftwaffen-Oberst verurteilt und dann eigenhändig erhängt - er hatte ein Telefonkabel zerschnitten, das den Gefechtsstand des Kommandanten mit der Truppe verband. Nur wenige Stunden später nehmen US-Soldaten die Stadt ein.

Ein zweifelndes "Oho!"

Doch man konnte schon für weniger hingerichtet werden. Dem Zellinger Bauern Karl Weiglein wird wegen zweier unvorsichtiger Bemerkungen der Prozess gemacht. Er hatte sich abfällig über eine Brückensprengung geäußert und die Drohung, Deserteure würden vors Standgericht kommen, mit einem "Oho!" quittiert. Als dann ein Sabotageakt entdeckt wird, wird der aufsässige Bauer an einem Birnbaum vor seinem Wohnhaus aufgeknüpft - ohne einen Beweis seiner Schuld (nachzulesen in der Main-Post).

Das sind keine Einzelfälle. An vielen Orten im ganzen Reich werden zahlreiche Menschen als "Verräter" hingerichtet, Männer, aber auch Frauen, zum Teil ganze Familien. Selbst überzeugte Nationalsozialisten sind vor Verfolgung nicht sicher. "Es gab auch Nazis, die zum Opfer von Endphaseverbrechen wurden, weil sie vorzeitig das Hitler-Bild von der Wand nahmen", sagt Keller. Der Historiker schätzt die Zahl der Zivilisten, die Opfer sogenannter Weiße-Fahne-Verbrechen wurden, auf eine hohe dreistellige oder niedrige vierstellige Zahl.

Angst vor den Zeugen der NS-Gräuel

Die mit Abstand meisten Opfer sind aber auch in der Endphase des "Dritten Reichs" in den Gruppen zu finden, die auch schon zuvor verfolgt, gemartert und getötet wurden: Häftlinge in den Konzentrationslagern und ausländische Zwangsarbeiter. Von etwa 700 000 KZ-Insassen, die sich zur Jahreswende 1944/45 noch in den Lagern befunden haben sollen, überlebt etwa ein Drittel die letzten Monate des NS-Regimes nicht. Sie werden noch in den Lagern getötet oder sterben bei den Räumungen der Vernichtungs- und Konzentrationslager.

Todesmärsche mit unklarem Ziel

Die geschwächten und ausgemergelten Gefangenen werden bei eisigen Temperaturen zu Tausenden in überfüllte Züge gepfercht oder mit großer Brutalität zu Fuß quer durchs Reich getrieben, ohne auch nur annähernd ausreichende Versorgung mit Wasser oder Essen. Viele überleben die Todesmärsche nicht. Wer zurückbleibt, wird von den SS-Wachmännern erschossen.

Doch was war das Ziel dieser Märsche? Möglicherweise sollten die KZ-Insassen tatsächlich noch im Kerngebiet Deutschlands in der Rüstungsproduktion eingesetzt werden. Mit zunehmender Auflösung des Reichs, mit dem Herannahen der Allierten wich dies jedoch der Absicht, die Spuren der NS-Gewaltherrschaft zu beseitigen - und deren Zeugen. Es gibt keine klaren Befehle, was mit den Häftlingen geschehen soll - Anordnungen von SS-Reichsführer Himmler sind widersprüchlich. Konzentrationslager, in die die geschwächten Menschen geleitet werden, sind oft schon überfüllt. Kreuz und quer werden sie dann durch die Lande getrieben, einem ungewissen Schicksal entgegen.

So werden beispielsweise Ende April 1945 etwa 9000 Häftlinge des KZ Neuengamme in Hamburg auf den Luxusliner Cap Arcona und andere Schiffe gebracht, die im Lübecker Hafen liegen. Die Zustände an Bord sind katastrophal: Die Schiffe sind völlig überfüllt, es gibt kaum Essen und Trinken. Was genau mit den Häftlingen geschehen soll, ob die Wachmannschaften überhaupt einen konkreten Plan haben, ist bis heute unklar. Jedenfalls wird die nicht als Gefangenenschiff gekennzeichnete Cap Arcona am 3. Mai von britischen Jagdbombern angegriffen und versenkt - von 4600 Gefangenen an Bord überleben gerade einmal 500.

Die ausgemergelten, zerlumpten Gestalten, die nun plötzlich vor aller Augen von einem Ort zum anderen gehetzt werden, wecken bei den Deutschen, die sie sehen, offenbar kaum Mitleid. Nur selten soll ihnen jemand beispielsweise Essen zugesteckt haben. Vielmehr sieht man in ihnen eine mögliche Bedrohung. Die Deutschen haben Angst vor der Rache der Gepeinigten.

So ist es auch zu erklären, dass Morde an den KZ-Häftlingen nicht nur von SS-Wachmannschaften, sondern auch unter tätiger Mithilfe ganz normaler Bürger geschahen. Selbst Jugendliche wirkten daran mit, entflohene Häftlinge zu ermorden. "Zebras schießen" lautete Historiker Blatmann zufolge der zynische Ausdruck für die Verfolgung der Menschen in der gestreiften Häftlingskleidung.

Ein besonders drastisches Beispiel für den "Virus entfesselter Gewalt" (Blatman), der sich in den letzten Kriegsmonaten an vielen Orten Bahn brach, ist der Massenmord in Gardelegen. Eine Meute aus SS-Angehörigen und Wehrmachtssoldaten, aber auch Mitgliedern des Volkssturms und der Hitlerjugend sperrt dort Mitte April mehr als tausend Häftlinge aus den KZs Mittelbau-Dora und Neuengamme in eine Scheune ein und zündet das Gebäude ein. Die Menschen verbrennen bei lebendigem Leibe. Wenige Stunden vor dem Eintreffen der US-Armee sollen so offenbar Zeugen der NS-Verbrechen beseitigt werden.

Massenerschießungen von Zwangsarbeitern

Neben KZ-Häftlingen bilden ausländische Zwangsarbeiter eine weitere große Gruppe, gegen die sich die Gewalt der letzten Kriegsmonate ungebremst entlädt. Sie gelten als besonders gefährlich, als "Feind im Innern", sagt Keller. Schon allein ihre große Zahl schürt bei den Deutschen Sorge, dass sie beim Heranrücken der alliierten Truppen nicht mehr zu kontrollieren sein werden: Zwölf Millionen "Fremdarbeiter", so die damalige Bezeichnung, müssen auf dem Gebiet des Deutschen Reichs für die Kriegswirtschaft schuften.

Es kommt zu Massenerschießungen durch die Polizei, aber auch zu zahllosen spontanen Gewaltakten gegen Zwangsarbeiter. In den Betrieben lautet der Vorwurf oft auf Sabotage, außerhalb auf Plünderung. Doch um Zwangsarbeiter aufzuhängen - wie zum Beispiel 200 überwiegend aus Italien stammende Menschen in Hildesheim (hier nachzulesen in der Hildesheimer Allgemeinen) -, genügt den Mördern ohnehin schon der Verdacht, nach einem Beweis wird oft erst gar nicht gesucht.

Und so endet das "Tausendjährige Reich" 1945 nicht allein durch die Übermacht der Alliierten, sondern delegitimiert sich noch einmal zusätzlich durch die nahezu schrankenlose Gewalt im Inneren. Was Daniel Blatman in Bezug auf die Todesmärsche konstatiert hat, trifft auch auf die anderen Weiße-Fahne-Verbrechen zu: Das Morden war zu einem "nihilistischen Akt" geworden.

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