Ende der Ära Karsai in Afghanistan:Der Zieher geht - die Strippen bleiben

Ende der Ära Karsai in Afghanistan: Zum ersten Mal in der Geschichte Afghanistans verlässt mit Hamid Karsai der Regierungschef nach einer Wahl freiwillig sein Amt

Zum ersten Mal in der Geschichte Afghanistans verlässt mit Hamid Karsai der Regierungschef nach einer Wahl freiwillig sein Amt

(Foto: AFP)

Afghanistans Präsident hat Attentate überstanden und die Amerikaner zur Weißglut getrieben. Nun macht Hamid Karsai Platz für Aschraf Ghani. Sein System aus Patronage und Korruption aber wird überleben.

Von Stefan Kornelius

Wer schon einmal mit Hamid Karsai reden konnte, der schwärmt vom gewinnenden Charme des afghanischen Präsidenten, von seiner Bildung und dem Kulturinteresse. "Poetry, Pashtuns, Pots" - von Dichtkunst bis Töpferei habe der Mann etwas mitzuteilen, heißt es immer.

Diesem Ruf wurde Hamid Karsai auch am Samstag gerecht, als er sich von den in Afghanistan akkreditierten Botschaftern verabschiedete. Brav aufgereiht saßen die Diplomaten unter hohen Bäumen im weitläufigen Areal des Präsidentenpalastes, und weil sie ihre interne Rangordnung kennen, durfte zuerst der indische Kollege, dann der amerikanische und schließlich der chinesische Vertreter eine Frage stellen. Als die Reihe an der kanadischen Botschafterin Deborah Lyons war, hatte Karsai der Worte genug gewechselt und beendete das Treffen mit einer charmanten Volte. Er erwiderte die Frage der Botschafterin nach der Zukunft des Landes mit dem berührenden Gedicht "Stopping by Woods on an Snowy Evening" von Robert Frost: "The woods are lovely, dark and deep / But I have promises to keep / And miles to go before I sleep / And miles to go before I sleep."

Wunder mit viel fremder Hilfe

Meilenweit müsse er noch laufen, ehe er ruhen dürfe, meilenweit. Karsai als lakonischer Sisyphos, als Schöngeist im tiefen afghanischen Unterholz. So mag er sich sehen, der Präsident in seinem Palast. Und so stellt er sich wohl seine Zukunft vor - weit vom Ziel entfernt.

Hamid Karsai, Afghanistans Präsident seit 2001, zweimal gewählt - er gibt an diesem Montag sein Amt ab. Dieser Satz kommt einer Sensation gleich. Denn kein afghanisches Staatsoberhaupt vor ihm hat seinen Platz an der Spitze des Landes freiwillig oder gar lebend verlassen. Karsai ist also mit viel fremder Hilfe ein Wunder gelungen: Afghanistan erlebt an diesem Montag den ersten demokratischen und friedlichen Machtwechsel seiner Geschichte.

Dieses Schicksal war Karsai nicht vorbestimmt, als er im Herbst 2001 von Pakistan kommend in seiner Heimat Kandahar die Stämme mobilisierte und den Platz an der Spitze der mächtigen Popalzai-Clans einnahm. Er war gerade 44 Jahre alt. Sein Vater war zwei Jahre zuvor ermordet worden, das Vermittlungshandwerk hatte er sich bei ihm abschauen können.

Liebling des Westens

Karsai stieg schnell zum Liebling des Westens auf. Die Petersberg-Konferenz 2001 entschied über das Schicksal Afghanistans und machte ihn zum Präsidenten. 2004 und 2009 wurde er - nun ja - vom Volk gewählt. Besonders die zweite Wahl war von schweren Fälschungen geprägt.

Afghan rival presidential candidates Abdullah Abdullah and Ashraf Ghani exchange signed agreements for the country's unity government in Kabul

Die Konkurrenten Abdullah Abdullah (li.) und Aschraf Ghani (künftiger Präsident) müssen sich die Macht teilen.

(Foto: Omar Sobhani/Reuters)

Wahlfälschung, Stammespolitik, der ewige Kreislauf aus Geben und Nehmen, Unterordnung und Überwerfung - afghanische Politik funktioniert nicht nach dem Westminster-Prinzip. Eine Erkenntnis, die den Taliban-Vertreibern aus dem Westen bis vor wenigen Jahren nicht recht einleuchten wollte. Karsai hat das politische System Afghanistans vorbei an Verfassung, Parlament und Kabinetten immer als Fortsetzung traditioneller Machtpolitik verstanden: als wabernden Organismus aus gekauften und geborgten Loyalitäten, feindselig gegen die Eindringlinge von außen (die Isaf-Koalition aus 48 Nationen oder die pakistanischen Taliban), instabil im Inneren wegen ethnischer Rivalitäten und der Feindschaften paschtunischer Clans. Dieser Kosmos lässt sich nicht regieren, er lässt sich nur überleben.

Große Reformen in Afghanistan

Karsai wurde zum geachteten Überlebenskünstler. Er überlebte Anschläge und Präsidentenwechsel, er pflegte immer konsequenter seine Feindschaft zu Amerika und ließ sich gleichzeitig von amerikanischen Leibwächtern bewachen. Er reizte seine politischen Beschützer aus dem Westen bis zur Weißglut und handelte derart unkalkulierbar, dass man ihn nicht nur in Washington für gelegentlich unzurechnungsfähig hielt oder wenigstens für schwermütig erklärte.

Am Ende doch nur ein Bürgermeister von Kabul? Oder ein gewiefter Stratege, der seinem Land vor allem Zeit kaufte und dabei eine bemerkenswerte Phase großer Reformen ermöglichte?

Afghanistan ist - gemessen an den Zuständen 2001 - ein blühendes Land geworden. In Kabul finden sich hinter Glitzerfassaden viele Beispiele für ein besseres Leben. Die Kindersterblichkeit ist mehr als halbiert, bei Neugeborenen ist sie gar auf ein Fünftel gefallen. 2001 waren wohl weniger als eine Million Kinder in einer Schule zu finden, darunter so gut wie keine Mädchen. Heute gehen zehn Millionen Kinder in die Schule, darunter etwa 3,8 Millionen Mädchen. 19 Millionen Afghanen nutzen heute ein Telefon, das Bruttosozialprodukt wächst um 3,5 Prozent, und es gibt etwa 1300 Richter im Land.

Mächtiger Akteur in einem undurchschaubaren System

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So fing alles an: Hamid Karsai im Dezember 2001, kurz nachdem er als Präsident der Übergangsregierung vereidigt wurde.

(Foto: Jimin Lai/AFP)

Alles Schlaglichter und alles nicht unbedingt Hamid Karsais Werk, genauso wenig wie die fast 3000 toten Zivilisten im Jahr, etwa 2500 von ihnen haben die Taliban oder andere Kämpfer von außerhalb auf dem Gewissen. Die Todesrate unter den afghanischen Soldaten und Polizisten war noch nie so hoch wie in diesem Jahr, wobei der anhaltende Streit um ein Stationierungsabkommen vermutlich auch nicht zur Sicherheit beigetragen hat.

Dies wiederum ist Karsais Zutun zu verdanken - der Präsident verstand es meisterhaft, die zentralen Themen der afghanischen Politik mit seiner Person und seiner Machtstellung zu verknüpfen. So wollte Karsai unbedingt vermeiden, mit seiner Unterschrift unter einem Stationierungsvertrag auf immer mit der Präsenz der Ausländer in Verbindung gebracht zu werden. Nein, er will als Präsident in die Geschichte eingehen, der die ungeliebten Amerikaner aus dem Land schaffen wollte - was ihm jetzt Glaubwürdigkeit für ein zweites Großprojekt verschafft: die Friedensverhandlungen mit den Taliban.

Karsai wird also nicht verschwinden. Sein Alterssitz wurde auf dem Gelände des Präsidentenpalastes gebaut, er schaut dem Nachfolger ins Fenster. Die Erbabmachungen sehen außerdem vor, dass die neue Garde das Patronage-System des alten Präsidenten übernehmen muss - inklusive der endemischen Korruption, die das System überhaupt erst funktionieren lässt. Karsai wird also weiter ein mächtiger Akteur in einem undurchschaubaren Spiel sein.

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