Empörungshistorie:Die erstaunliche Euphorie der Schweizer über den Gotthard-Basistunnel

Empörungshistorie: Das Klausenrennen-Plakat wirbt eher für Autos als für Berge.

Das Klausenrennen-Plakat wirbt eher für Autos als für Berge.

(Foto: Verlag Scheidegger & Spiess)

Das Versprechen ungehemmter Mobilität hat seinen früheren Zauber eingebüßt. In Deutschland demonstrieren "Wutbürger" gegen große Infrastrukturprojekte. Anders in der Schweiz.

Von Gerhard Matzig

Im Grunde ist es nicht die Chiffre einer heroischen Überwältigung, sondern das Bild einer brutalen Unterjochung: Sie, die erhabene Naturschönheit des Alpenraums, liegt darnieder, bezwungen von ihm, dem rasenden Boliden, der sich im rauschhaften Furor veloziferischer Lust förmlich in den Berg hineinzufräsen scheint. Wenn es einen Höhepunkt der erotisierten Plakatkunst gibt, dann ist er hier wohl erreicht.

Tatsächlich wirbt das Plakat aus dem Jahr 1925 für das "vierte internationale Klausenrennen". Zu sehen ist es im soeben erschienenen Prachtband "Der Gotthard" (Verlag Scheidegger & Spiess). Darin dient das Bild als Beispiel für die mythologisch überhöhte Bergwelt am Beginn der Moderne. Nicht zufällig erinnert das Emblem delirierenden Techniktaumels an das einige Jahre zuvor veröffentlichte "Manifest des Futurismus", worin es heißt, ein Rennwagen sei "schöner als die Nike von Samothrake".

Und weiter: "Besingen werden wir die gefräßigen Bahnhöfe ( . . . ) die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen; die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen, und den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu klatschen scheint wie eine begeisterte Menge."

Das Manifest, das den Verdacht nährt, sein Verfasser - es ist der italienische Dichter Filippo Tommaso Marinetti - sei zum Zeitpunkt des Manifestierens gewaltig auf Speed gewesen, dokumentiert die innige Verbundenheit von Moderne und Mobilität. Autos, Züge und Flugzeuge sind die Vehikel in die Verheißungen der Zukunft. Brücken, Straßen und Tunnels ebnen die Wege dorthin.

Gotthard Simplon Bahn Ein Expresszug beim Halt in Erstfeld Schweiz 1930er Jahre Express at a stop

Ein frühes Postkartenmotiv aus den 1930er Jahren: Ein Expresszug der Gotthard-Simplon-Bahn beim Halt in Erstfeld

(Foto: imago/United Archives)

Die Natur - Meere, Flüsse, Berge, Schluchten oder Wälder - wurde alsbald nur noch als Hindernis wahrgenommen und degenerierte schließlich zur touristischen Kulisse. In diesem Sinn erzählt der Berggipfel nicht von der Erhabenheit der Natur, sondern illustriert lediglich die technoide Macht, diese zu überwinden.

"Fauchend und brüllend", so die zeitgenössischen Berichte, rasten die Teilnehmer des Klausenrennens dem Gipfel und dem "Grossen Bergpreis der Schweiz" entgegen. Fauchend und brüllend reagieren hierzulande seit Jahren aber auch viele Menschen auf das Infrastrukturprojekt Stuttgart 21, das die Untertunnelung der halben Innenstadt vorantreibt.

Bemerkenswerte Tunnel-Euphorie in der Schweiz

Im Zuge der anschwellenden, massenmedial begleiteten Proteste seit 2010 wurde der "Wutbürger" geboren. Soziologisch und politisch galt eine wutbürgerliche Gesinnung lange Zeit als Inbegriff antimoderner, technikfeindlicher und rückwärtsgewandter Trillerpfeifenhaftigkeit. Wutbürger tauchten immer dann auf, wenn es um große Infrastrukturprojekte ging, um Flughäfen (Berlin), S-Bahn-Tunnel (München) oder Brücken (Dresden). Zu Lasten des Fortschritts und auch auf Kosten der Demokratie, wie viele Politologen mutmaßten, schwenkten die Wütenden ihre Nein-Danke-Schilder und stellten sich den Bulldozern in den Weg.

Offenbar hat das Versprechen ungehemmter Mobilität seinen einstigen Zauber eingebüßt. Es ist nun der Höher-schneller-weiter-Fortschritt, der selbst als Rückschritt erscheint. Zu Lasten der Natur und auch, wie wiederum andere Politologen mutmaßen, zu Lasten der Demokratie.

Gerade deshalb ist die gesamtgesellschaftliche Euphorie, die der fertige Gotthard-Tunnel als eines der größten Ingenieurbauwerke der Welt in der Schweiz hervorruft, so bemerkenswert. Der identifikatorisch wirksame Tunnel ist jenseits aller verkehrlichen Belange ein Zeichen dafür, dass sich - hohe Planungskultur mit Transparenz und Beteiligung à la Schweiz vorausgesetzt - noch immer Berge versetzen lassen. Da möchte man Beifall klatschen wie ein Propeller im Liebesrausch.

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