In Paris und auch in Berlin findet sich gelegentlich die Vorstellung, dass Europa im Kern eine Angelegenheit der Franzosen und der Deutschen sei: Wenn die beiden Staaten sich verständigen, wird der Kontinent schon folgen. Wenn die Achse hält, trägt sie auch den Karren.
Diese Vorstellung könnte falscher nicht sein. Auch wenn die europäischen Gründungsstaaten Deutschland und Frankreich ganz entscheidend zur Stabilität und zur Weiterentwicklung der Union beitragen, auch wenn gegen ihren Willen keine Politik gelingen wird, auch wenn große europapolitische Impulse in der Regel nicht von anderen Staaten kommen: Dies ist eine Gemeinschaft von 28, bald wohl 27 Staaten, die von enormen Fliehkräften geplagt wird. In diesem Augenblick können Deutschland und Frankreich die EU vielleicht zusammenhalten. Für mehr aber fehlen Kraft und Wille.
Deutschland und Frankreich sind kein liebendes Elternpaar, das sich in geteilter Sorge um den Sprössling kümmert und alleiniges Erziehungsrecht genießt. Deutschland und Frankreich sind viel mehr auch Kontrahenten mit unterschiedlichen Interessen und unterschiedlicher Gefolgschaft auf dem Kontinent. Kontrahenten, die sich im Idealfall auf einen fruchtbaren Kompromiss einigen. Dies ist jahrzehntelang gelungen. Nun steht wieder so ein großes Einigungswerk an.
Der Präsident nimmt Deutschland in die Pflicht. Aber will Berlin?
Man muss dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron zugestehen, dass er über einen perfekten politischen Instinkt verfügt. So wie er vor einem Jahr die sozialistische Regierung verlassen hat und in Erwartung eines Kollapses der französischen Parteienlandschaft seine eigene Bewegung gründete, so hat er nun die Agenda der nächsten europäischen Reformetappe bestimmt.
Diese Agenda und mehr noch der Zeitpunkt müssen die mutmaßlich nächste deutsche Kanzlerin Angela Merkel ärgern, weil der Präsident das Vakuum zwischen Wahltag und Regierungsbildung nutzt, um die Inhalte der europapolitischen Koalitionsverhandlungen zu diktieren. Da sitzen nun nicht nur FDP und Grüne am Tisch, sondern eben auch Monsieur le Président.
Neben diesem taktischen Coup ist Macron ein zweites Kunststück gelungen: Er hat Frankreich mit Verve als europäische Gestaltungsnation zurückgebracht. Diese Rolle hatte schon der späte Sarkozy aufgegeben. Unter Präsident Hollande ist sie ganz verkümmert. Nun ist Frankreich wieder da. Der Strauß an Vorschlägen ist bunt, es sind viele interessante Blüten darunter, das Flechtwerk ist gewohnt pompös und emotional. Doch hinter allem steckt ein klares Kalkül: Macron reicht Merkel sein Tanzkärtchen, der Reigen kann beginnen.
Merkel sieht ihre Rolle in der EU als Mittlerin
Die Aufgabe ist verzwickt, weil politische Kultur und die momentane Gestaltungskraft Deutschlands und Frankreichs unterschiedlicher nicht sein könnten. Während Macron seine ideale europäische Parklandschaft ausmalt und mit gewaltigem Wortwerk umrankt, zupft die Gärtnerin Merkel lieber hier und da ein Unkraut und wässert die Beete, die zu trocken sind.
Macron beschert der EU eine gewaltige Grundsatzdebatte - und legt sich gleich zu Beginn auf ein Ergebnis fest. Merkel sieht ihre Rolle als Mittlerin, die Fliehkräfte bindet und Kompromisse auslotet. Diese Rolle ist ihr in den vergangenen Jahren zugefallen. Macron will sie nun als Verbündete, oder eben als Kontrahentin - eine gefährliche Herausforderung für Merkel, die wie keine andere auf Wohl und Weh aller in der EU achten muss.
Frankreichs Präsident steht vor gewaltigen innenpolitischen Problemen. Sein Europakonzept hat er direkt mit den inneren Reformen verknüpft. Und weil Macrons Reform-Erfolg auch im deutschen Interesse ist, besteht nun mit ihm eine Haftungsgemeinschaft. Die Vision ist umfassend.