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Emanzipation:Aufstieg und Niedergang des Patriarchats

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Islam und Unterdrückung der Frau - das ist zu kurz gesprungen. Das Streben des Mannes nach Kontrolle über die Frau ist älter. Und es hat zu tun mit Sex, Evolution, Kultur und Religion.

Ein Essay von Markus C. Schulte von Drach

Unterdrückung der Frau, sexuelle Gewalt und Islam - es steckt eine Menge Sprengkraft in der seit Köln häufig aufgestellten Behauptung, diese Dinge hätten grundsätzlich etwas miteinander zu tun. Allerdings springt man mit diesem hässlichen Dreiklang tatsächlich zu kurz. Es gibt einen größeren Zusammenhang: den zwischen Sex, Evolution, Patriarchat und Religion.

Das zeigen Erkenntnisse von Soziobiologen und Evolutionspsychologen, die in der Debatte um Gleichberechtigung und Patriarchat immer noch zu kurz kommen. Dabei beschäftigen sich sowohl feministische Theorien als auch die Evolutionsbiologie mit den gleichen Aspekten: Es geht vor allem um Macht und die Kontrolle weiblicher Sexualität.

Allerdings gehen "Evolutionsbiologen auch der tieferen Frage nach, warum Männer überhaupt die Kontrolle über Frauen ausüben wollen, während Feministinnen dazu neigen, dies als gegeben zu betrachten". Das stellte die amerikanische Feministin und Biologin Barbara Smuts bereits 1995 in einem wegweisenden Artikel fest.

Biologische Wurzeln des Patriarchats

Um zu begreifen, wie sich das Patriarchat mit seiner Kontrolle über die weibliche Sexualität entwickeln konnte, müssen wir weit in die biologische Vergangenheit zurückblicken. Vor etwa 1,5 Milliarden Jahren entwickelte sich die sexuelle Fortpflanzung mit zwei Geschlechtern. Bis in die Gegenwart haben beide ihre jeweils eigene sexuelle Evolution hinter sich gebracht, die zu vielfältigen geschlechtsspezifischen Bauplänen und Verhaltensweisen geführt hat.

Bei Säugetieren ist der wichtigste Unterschied zwischen den Geschlechtern, dass Weibchen für die Fortpflanzung erheblich mehr körperliche Ressourcen aufwenden müssen als Männchen. Junge werden von der Mutter erst im eigenen Körper versorgt und nach der Geburt gesäugt. Sich zeitnah mit mehreren Partnern einzulassen, führt nicht zu mehr Schwangerschaften. Männchen dagegen können theoretisch mit jeder zusätzlichen Partnerin auch mehr Nachwuchs zeugen.

Das führt, wie der Bio-Philosoph Eckart Voland in seinem Buch "Die Natur des Menschen" schreibt, "zu einer folgenreichen und soziokulturell höchst dynamischen Angebots- und Nachfrage-Asymmetrie auf dem Markt sexueller Transaktionen". Theoretisch kann ein Männchen seine Reproduktion erhöhen, wenn es sich den Zugang zu einem oder mehreren Weibchen sichert und Konkurrenten von diesen fernhält.

Dies ist die Basis, von der aus das Fortpflanzungsverhalten der Primaten - auch des Menschen - betrachtet werden muss. Unsere nächsten Verwandten haben auf dieser Grundlage verschiedene Fortpflanzungsstrategien entwickelt.

Bei Gorillas etwa verteidigt ein einzelnes Männchen einen Harem gegen Konkurrenten. Bei Schimpansen dominiert ein Alpha-Männchen - auch mit Gewalt - die anderen Gruppenmitglieder und hat privilegierten Zugang zu den Weibchen. Das hält andere Männchen und Weibchen allerdings nicht von gelegentlichem - heimlichen - Sex ab. Bonobos (Zwergschimpansen) paaren sich dagegen extrem promiskuitiv.

Der Mensch ist sexuell gesehen relativ flexibel. In den meisten Kulturen herrscht offenbar eine Neigung zur - häufig vorübergehenden - monogamen Paarbindung vor. Je nach den Umständen kommt Polygynie vor, bei der ein Mann mehrere Partnerinnen hat. Extrem selten ist die Polyandrie: In abgelegenen Tälern im Himalaya etwa wird die Tochter vom Vater an den ältesten Sohn einer anderen Familie gegeben und heiratet dessen Brüder gleich mit.

Menschen können also, je nach vorherrschenden Umständen, unterschiedliche Strategien verfolgen. Wieso haben sich in der Vergangenheit dann patriarchalische Strukturen durchgesetzt?

Folgen der Sesshaftigkeit

Bevor der Mensch vor etwa 10 000 Jahren sesshaft wurde, war er offenbar ein Kleingruppen-Nomade mit relativ klarer Arbeitsteilung: Vor allem die Männer widmeten sich der Jagd, während Frauen eher Nahrung sammelten - eine für die Versorgung wichtigere Arbeit - und die Kinder der Gruppe betreuten. Anthropologen sind sich weitgehend einig darin, dass in solchen Gesellschaften die Geschlechter relativ gleichberechtigt waren. Beide Geschlechter könnten unter diesen Umständen ihre Partner frei gewählt haben.

Als mit der Neolithischen Revolution Ackerbau und Viehzucht aufkamen, änderte sich die Geschichte der Menschheit dramatisch. Wie etwa Ian Morris von der Stanford University schreibt, verbesserte sich die Versorgung, die Geburtenrate stieg, die Arbeitsteilung wurde noch strikter:

Frauen waren häufiger als zuvor schwanger und kümmerten sich neben der Landwirtschaft um mehr Säuglinge und Kleinkinder, den Haushalt und Handarbeiten. Die typische Bäuerin, so Morris, brachte sieben Kinder zur Welt. Die Rolle der Männer als Bauern und Handwerker wurde für den Lebensunterhalt und den Wohlstand der Familien jedoch wichtiger als die Arbeit der Frau.

Was nach einer reproduktiv betrachtet erfolgreichen Strategie klingt, hatte einen bedeutenden Nebeneffekt: Die Frauen gerieten vielerorts in eine immer größere materielle Abhängigkeit vom Ehemann, während dieser in die Lage kam, seine ans Haus gebundene Frau zu beherrschen. Die Aufgabe der Männer, das Eigentum gegen Konkurrenz und Raub zu verteidigen, führte zu Bruder- und Verwandtenbündnissen. Erste Städte und Staaten entstanden, die wiederum von Männern kontrolliert wurden.

In so ziemlich jeder bekannten Kultur der Welt haben Männer über die Jahrtausende hinweg so das Patriarchat etabliert.

Die Frau als Teil von Hab und Gut

Frauen wurde das Selbstbestimmungsrecht weitgehend genommen, teils wurden sie geradezu wie eine Art Besitz behandelt. Söhne wurden als Erben des väterlichen Besitzes und als Familienoberhäupter höher geschätzt als Töchter - die als wertvolle Ressource an andere Männer gegen einen Brautpreis verkauft werden konnten.

Wie die Literatur der Antike belegt, wurden Frauen zwar nicht immer und überall rechtlos, aber den Männern klar untergeordnet. Letztlich nutzten Ehemänner ihre Vorteile, um sich die sexuelle Verfügbarkeit von Frauen so weit wie möglich zu sichern und Konkurrenz fernzuhalten.

Solche durch Evolutionsinteressen geprägte Motive würden zwar nicht unmittelbar in gesellschaftliche Praxis umgesetzt, schreibt dazu der US-Evolutionspsychologe Steven Pinker in seinem Buch "Gewalt". Früher wie heute "können sie die Menschen aber dazu antreiben, sich für Gesetze und Sitten einzusetzen, die diese Interessen schützen." Das Ergebnis seien die allgemein verbreiteten juristischen und kulturellen Normen, durch die Männer sich untereinander das Recht auf Kontrolle über die Sexualität von Ehefrauen und Töchter zusprechen.

Hier kommt die Religion ins Spiel. Die Weltreligionen etwa haben zwar den Anspruch, Antworten auf die großen Fragen wie den Sinn des Lebens zu geben. Sie bietet aber auch die Möglichkeit, Normen unter Berufung auf göttliche Instanzen zu festigen. Und zwar nicht nur solche, die dem friedlichen Zusammenleben dienen.

Einer neuen "Theorie der reproduktiven Religiosität" zufolge geht es in erster Linie um etwas völlilg anderes. "Es sind Sex, Heirat und Fortpflanzung - und nicht Vertrauen, Ehrlichkeit und Großzügigkeit - die für die Gläubigen der Welt der Kern der Moralvorstellungen sind", so Michael McCullough von der University of Miami in der SZ. Das zeigt ihm zufolge eine Reihe jüngerer Studien.

Die drei großen Buchreligionen und der Hinduismus haben demnach mit ihren Regeln und Vorschriften weltweit das Patriarchat zementiert und tun es heute teils immer noch.

Frauen im Judentum und Christentum

Mit den "Zehn Geboten" in der jüdischen und christlichen Bibel etwa richtet sich Gott ausschließlich an Männer. Frauen tauchen nur als Teil dessen auf, was der Nächste besitzt - und was man nicht begehren darf.

Weitere Regeln: Mädchen, die vor der Ehe Sex haben, sollten gesteinigt werden, genauso Ehebrecherinnen. Wer eine Jungfrau vergewaltigte, musste an den Vater eine Strafe zahlen, das Opfer aber musste den Vergewaltiger heiraten. Und wenn ein Mann seine Frau vergewaltigte und sich dann an seinem eigenen "Besitz" verging, beging er natürlich kein Verbrechen.

Zwar wurden diese Gebote später nicht mehr so streng umgesetzt. Die Hierarchie der Geschlechter aber hat der Apostel Paulus im Epheserbrief klargestellt: Frauen sind ihren Männern untertan. Kirchenväter wie Ambrosius, Augustinus und Thomas von Aquin, aber auch Reformator Martin Luther hielten Frauen für minderwertig. Ihre Aufgabe sollte es vor allem sein, Kinder zu gebären. Und das orthodoxe jüdische Gebetsbuch Sidur lässt manche jüdischen Männer heute noch beten: "Gott sei Dank bin ich nicht als Frau geboren."

Frauen in der islamischen Welt und im Hinduismus

Im Islam wurde seit dem siebten Jahrhundert ein ähnliches Frauenbild gepflegt wie im frühen Judentum und Christentum. Der traditionellen Auslegung des Koran zufolge stehen Männer über den Frauen, sind mehr wert, und dürfen ihre Ehefrauen schlagen, wenn sie ungehorsam sind.

Zwar gilt der frühe Islam im Vergleich zu den prä-islamischen Verhältnissen im Nahen Osten in Bezug auf die Frauenrechte geradezu als fortschrittlich. "Durch die islamischen ehe- und familienrechtlichen Regelungen war die Stellung der Frau in Arabien durchaus verbessert worden", schreibt etwa die Bonner Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher.

Doch aus dem Koran und den Überlieferungen ( Hadithe) wurden dann etliche Regeln abgeleitet, um das Sexualverhalten der Frauen zu kontrollieren. Dazu gehören etwa Vorschriften wie jene, dass Frauen, wenn sie überhaupt in die Öffentlichkeit dürfen, sich verschleiern oder ein Kopftuch tragen sollen, um Männer nicht sexuell zu reizen. Frauen, die freiwillig ein Kopftuch tragen oder sich verschleiern, um Zugehörigkeit zu einer sinnstiftenden Religion zu demonstrieren, benutzen dazu demnach ausgerechnet ein Symbol, das für das patriarchalische System steht.

Da in muslimisch geprägten Ländern das Zivilrecht bis heute in der Regel am Schariarecht ausgerichtet ist, sind Frauen dort etwa in Bezug auf Ehe- und Erbrecht benachteiligt. Mancherorts können Vergewaltiger sogar noch immer einer Strafe entgehen, wenn sie ihr Opfer heiraten. In einigen extrem traditionellen Gesellschaften kommt es heute noch zu religiös gerechtfertigter Zwangsheirat, zu Ehrenmord und Beschneidung von Mädchen, um ihnen Spaß am Sex zu nehmen.

Auch im Hinduismus ist das "klassisch-brahmanische Frauenideal die gute Ehefrau, die ihrem Mann dient" und ihm möglichst viele Söhne gebären soll. Denn im Sohn wird angeblich der Vater wiedergeboren, erklärt die Wiener Religionswissenschaftlerin Birgit Heller im Deutschlandfunk. Weibliche Sexualität wird auch im Hinduismus deshalb stark kontrolliert. In der also auch durch den Hinduismus patriarchalisch geprägten Gesellschaft Indiens werden Frauen von Männern häufig immer noch wie Eigentum be- und misshandelt.

Vor einigen Jahrhunderten begann sich das Verhältnis zwischen Mann und Frau in Westeuropa und dann auch in anderen Regionen zu verändern. Die Versorgungslage verbesserte sich, ebenso die medizinischen und hygienischen Verhältnisse. Ein wohlhabendes Bürgertum entwickelte sich, in dem Frauen sich die Hilfe von Dienstboten leisten konnten. Im Handwerk und im Handel wurden Ehefrauen häufig zu Helfern der Männer.

Die Kindersterblichkeit ging im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert deutlich zurück, dann auch die Geburtenrate. (Möglicherweise weil mit weniger Nachwuchs, der aber überlebte, Reproduktion und Altersversorgung genauso abgesichert waren wie zuvor mit vielen Kindern, von denen aber ein großer Teil starb.) Für immer mehr Frauen ergaben sich so Möglichkeiten, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen als mit Nachwuchs und Haushalt.

Im Rahmen der industriellen Revolution eröffneten sich für Frauen der sozial schwächeren Schichten Arbeitsmöglichkeiten in den neuen Fabriken. Die Textilindustrie etwa bevorzugte ab dem 18. Jahrhundert sogar weibliche Arbeitskräfte, die aufgrund ihres Status schlechter bezahlt werden konnten. Diese Ausbeutung hatte den langfristig positiven Effekt, dass Frauen sich als Arbeitskräfte außerhalb der Familienarbeit etablierten.

Zunehmend erhoben Frauen auch Anspruch auf eine akademische Ausbildung. Im 20. Jahrhundert ergaben sich für sie darüber hinaus immer mehr Arbeitsmöglichkeiten im Dienstleistungssektor. Die eigene Erwerbstätigkeit öffnete Frauen demnach die Tür in Richtung materielle Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Die materielle Kontrolle der Männer über die Frauen begann mit ihr zu erodieren.

Neues Menschenbild

Parallel dazu veränderte sich mit der europäischen Aufklärung - gegen den Widerstand aus Politik und Kirchen - auch das Menschenbild in der Gesellschaft. Die Gottgegebenheit der Stände wurde zunehmend in Frage gestellt. Vor dem Hintergrund des langsam wachsenden revolutionären Bewusstseins, dass alle Menschen frei und gleich sind, wurden erste Forderungen nach Gleichberechtigung der Geschlechter laut.

1730 fragte die britische Schriftstellerin Mary Astell in ihren "Reflexionen über die Heirat": "Wenn alle Menschen frei geboren werden, wieso werden dann alle Frauen als Sklaven geboren?" Während der Französischen Revolution verfasste die Autorin Olympe de Gouges eine "Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin", da diese in der neuen Verfassung nicht berücksichtigt wurden. De Gouges starb unter der Guillotine.

Ernsthafte Schritte in Richtung Emanzipation ließen weiter auf sich warten. Statt von Gleichberechtigung schwärmte das "romantische" Bürgertum erst einmal vom Weib, das von Natur aus schön, naiv, unschuldig, sanftmütig, mütterlich und dem Mann in Bezug auf Vernunft und Selbstständigkeit unterlegen sein sollte. Rückhalt für diese Vorstellungen fand das Partriarchat in der Wissenschaft und bei anti-aufklärerischen Philosophen wie Johann Gottlieb Fichte oder bei Rousseau.

"Durch Usurpation von allen politischen Ämtern ausgeschlossen"

Auch bei der Wahl für die deutsche Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848 waren keine Frauen dabei. "Wohl spricht man viel von Freiheit für alle", schrieb damals die Frauenrechtlerin Louise Dittmer, "aber man ist gewöhnt unter dem Wort 'alle' nur die Männer zu verstehen."

Manche Philosophen, Dichter, Politiker oder Wissenschaftler aber unterstützten die frühen Feministinnen, die im 19. Jahrhundert erste Frauenvereine gründen. Frauen, ärgerte sich etwa Heinrich Heine 1840 in Paris, seien "durch eine ungerechte Gesetzgebung, durch die Usurpation der Männer, von allen politischen Ämtern und Würden ausgeschlossen".

Andere wichtige Denker hielten Frauen trotz offensichtlicher Gegenbeweise weiterhin für geistig minderbemittelt. Arthur Schopenhauer etwa glaubte noch 1851, Frauen seien "eine Art Mittelstufe zwischen dem Kinde und dem Manne, als welcher der eigentliche Mensch ist."

Wenig Verständnis fanden die Frauenrechtlerinnen im Vatikan. So stellte Papst Leo XIII. in einer Enzyklika 1880 klar: "Der Mann ist Vorgesetzter der Familie und das Haupt der Frau, die [...] ihm nicht wie eine Sklavin, sondern als Gefährtin unterwürfig und gehorsam sein soll, so dass der Gehorsam, den sie leistet, ehrbar und würdig sei."

Noch 1900 versuchte der deutsche Neurologe und Psychiater Paul Möbius sogar den " physiologischen Schwachsinn des Weibes" wissenschaftlich zu belegen. Drei Jahre später erhielt Marie Curie ihren ersten von zwei Nobelpreisen und in Großbritannien organisierte sich mit den Suffragetten eine äußerst kämpferische Frauenbewegung.

Ab dem 20. Jahrhundert fanden die Frauenrechtlerinnen so viel Unterstützung, dass Frauen in den Demokratien in Europa und andernorts nach und nach das Wahlrecht erhielten. 1919 konnten Frauen etwa in Deutschland erstmals wählen und gewählt werden - eine "Selbstverständlichkeit", die den Frauen bis dahin "zu Unrecht vorenthalten worden ist", erklärte die frisch gewählte sozialdemokratische Abgeordnete Marie Juchacz.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde es für die Anhänger des Patriarchats immer schwerer, die Herrschaft über die Frau zu rechtfertigen. In Deutschland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Gleichberechtigung immerhin im Grundgesetz festgehalten. Das Familienrecht allerdings erklärte Männer zu Ernährern, Frauen zu Haufrauen und Müttern. Diese Relikte der patriarchalischen Reproduktionskontrolle überlebten noch die Regierungszeiten der christlich-konservativen Kanzler Adenauer und Kiesinger.

Bundesrepublik: Bis 1977 kann der Ehemann den Job der Frau kündigen

Erst im Schatten der 68er-Bewegung, der "sexuellen Revolution" und der weiter zunehmenden materiellen Unabhängigkeit erwerbstätiger Frauen begann die sozialliberale Koalition in den 70er Jahren mit grundlegenden Reformen des Ehe- und Familienrechts:

Ab 1976 mussten Ehefrauen den Familiennamen ihres Mannes nicht mehr zwingend annehmen. Seit 1977 sind sie nicht mehr verpflichtet, den Haushalt zu führen. Ein Ehemann kann die Stelle seiner Frau nicht mehr kündigen, wenn er meint, sie würde die Arbeit daheim vernachlässigen. Seit 1980 müssen Frauen und Männer für die gleiche Arbeit gleichen Stundenlohn erhalten. Und erst 1997 wurde gesetzlich festgelegt, dass die Vergewaltigung der Frau durch ihren Ehemann ein Verbrechen ist.

Parallel zur Politik hat sich im 20. Jahrhundert auch das Frauenbild in den Weltreligionen zu ändern begonnen - wenn auch in sehr unterschiedlichem Tempo. Seit einigen Jahrzehnten können Frauen in immer mehr protestantischen Kirchen Priesterinnen werden. Auch Rabbinerinnen und weibliche Imame gibt es heute, allerdings nur ganz vereinzelt.

Und während Papst Franziskus " Emanzipation, die bisher vom Männlichen besetzte Räume zu erobern versucht" für gefährlich hält, will er Frauen immerhin nicht mehr "aufs Mütterliche" beschränken, sondern ihr ganzes Potential für den Aufbau der Gemeinschaft würdigen. In Indien können Männer, die Frauen vergewaltigen oder verletzen, nicht mehr davon ausgehen, straffrei zu bleiben.

In Deutschland und den übrigen Industriegesellschaften sind Frauen heute formal ziemlich gleichberechtigt. Aber wenn es um Jobs, Gehälter und Führungspositionen geht, werden sie weiterhin benachteiligt - auch weil "Männerrunden" noch immer Politik, Wirtschaft und verschiedene Gesellschaftsgebiete dominieren.

"Das Patriarchat ist noch nicht tot"

"Das Patriarchat ist noch nicht tot", konstatiert Ian Morris, "aber es sieht eindeutig ungesund aus." Nicht, weil Männer seit 1800 Heilige geworden wären und Frauen endlich ihre Stimme gefunden hätten. "Die weniger deutliche Geschlechtshierarchie funktioniert in Industriegesellschaften einfach besser als in Agrargesellschaften."

Die Geschlechterungleicheit in Letzteren werde aussterben, weil diese Gesellschaften selbst nach und nach verschwinden, so Morris. In der zunehmend industrialisierten Welt, so vermutet er, werden sich die letzten "verbissenen Verteidiger" der Unterdrückung der Frau - etwa die religiösen Extremisten - dem Lauf der Geschichte vergeblich in den Weg stellen.

Zugleich akzeptieren auch immer mehr Menschen, dass Gleichberechtigung ein universelles Menschenrecht ist - und dass neben dem Ruf nach "Freiheit" und "Gleichheit" der nach "Mitmenschlichkeit" stehen sollte, nicht der nach "Brüderlichkeit".

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