Impfrisiken:Was hinter der EMA-Entscheidung steckt

Ob es einen Zusammenhang der Impfung mit sehr selten beobachteten Hirnvenenthrombosen gibt, kann die Europäische Arzneimittel-Agentur zwar nicht final ausschließen. Doch es gibt andere plausible Erklärungen.

Von Christina Berndt und Christina Kunkel

Aus Amsterdam kamen am Donnerstagabend Entwarnung und Warnung zugleich. Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) hält den Impfstoff von Astra Zeneca weiterhin für "sicher und wirksam", sagte EMA-Chefin Emer Cooke in einer Pressekonferenz. Die Vorteile einer Impfung mit Astra Zeneca seien weit größer als die Nachteile. Das Experten-Komitee für Arzneimittelsicherheit der EMA, kurz PRAC, hat demnach keine Hinweise auf eine Häufung von Thrombosen nach Impfung mit dem Astra-Zeneca-Vakzin gefunden. Die Zahl von Thrombosen allgemein sei nach der Impfung sogar geringer gewesen als angenommen, teilte die PRAC-Vorsitzende Sabine Straus mit.

Allerdings können die Experten, nachdem sie seit Tagen "rund um die Uhr gearbeitet" hätten, wie Straus sagte, die wichtigste Frage letztlich nicht beantworten: Ob es einen Zusammenhang der Impfung mit den auch in Deutschland in sehr seltenen Fällen beobachteten Hirnvenenthrombosen und einem seltsamen Abfall von Blutplättchen gibt, sei nicht auszuschließen. "Es ist nicht mit Sicherheit zu sagen, ob diese von dem Impfstoff kommen oder nicht", sagte Straus, dies werde nun engmaschig weiter untersucht. Deshalb soll ab sofort eine Warnung auf dem Beipackzettel des Astra-Zeneca-Impfstoffs stehen. Menschen müssten sich der potenziellen Gefahr bewusst sein, auch wenn das Risiko nicht bewiesen und sehr, sehr niedrig sei. Und wenn sie nach der Impfung dauerhaft starke Kopfschmerzen hätten oder punktförmige blaue Flecken unter der Haut entstehen, dann sollten sie einen Arzt aufsuchen.

Insgesamt hat die EMA Kenntnis von 18 solch besonderen Blutgerinnseln im Gehirn und von sieben Patienten mit sehr niedrigen Blutplättchen-Spiegeln erlangt - bei mehr als 2o Millionen Impfungen in Europa. Aus Deutschland wurden derweil neue Fälle bekannt. Das Bundesgesundheitsministerium meldete am Donnerstag nunmehr 13 Fälle dieser sehr seltenen Thrombosearten. Zwölf Frauen und ein Mann zwischen 20 und 63 Jahren haben demnach im zeitlichen Zusammenhang mit einer Astra-Zeneca-Impfung eine Hirnvenenthrombose erlitten; drei von ihnen seien verstorben. Es waren insgesamt 1,7 Millionen Dosen des Impfstoffs verabreicht worden.

Ein Aussetzen der Impfungen sei somit richtig gewesen, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Donnerstagabend. Die Ereignisse seien selten, aber schwerwiegend gewesen. Doch in ihrer Beurteilung schlossen sich die deutschen Behörden dem Votum der EMA an. Die Impfungen sollten somit baldmöglichst wiederaufgenommen werden, sagte Spahn. Man arbeite bereits an einer neuen Version der Beipackzettel; bis diese umgesetzt sei, könnten Ärzte die Aufklärungsbögen auch handschriftlich anpassen.

Die Zahl der entdeckten Hirnvenenthrombosen nach der Astra-Zeneca-Impfung erscheint in der Tat hoch. Normalerweise kommt es nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) zu zwei bis fünf Hirnvenenthrombosen pro einer Million Einwohner pro Jahr. Bis zum verkündeten Impfstopp am Montag waren es sieben Fälle in wenigen Wochen gewesen. Das sah nach einer deutlichen Häufung aus.

Allerdings gibt es auch andere mögliche Erklärungen, die den Impfstoff aus der Verantwortung nehmen würden. So haben Wissenschaftler aus den Niederlanden und Australien in den vergangenen Monaten berichtet, dass Hirnvenenthrombosen natürlicherweise deutlich häufiger auftreten als bislang gedacht - nämlich bis zu 15 pro Million Einwohner pro Jahr.

Hinzu kommen weitere Beobachtungen. In Großbritannien sind bei elf Millionen Impfungen nur drei solcher Fälle den Behörden gemeldet worden. Womöglich habe sich die verdächtige Häufung von Fällen in Deutschland einfach daraus ergeben, dass hierzulande wegen der anfänglichen Altersbeschränkung des Astra-Zeneca-Impfstoffs anders als in Großbritannien vor allem jüngere Menschen damit geimpft wurden, gab der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité in der jüngsten Folge seines NDR-Podcasts zu bedenken. Noch dazu seien unter den mit dem Astra-Zeneca-Impfstoff Geimpften in Deutschland wahrscheinlich besonders viele Frauen gewesen. Denn Anspruch auf eine Impfung mit diesem Vakzin hatte neben Menschen mit besonderen Erkrankungen in den vergangenen Wochen vor allem medizinisches Personal - und in der Pflege arbeiten überproportional viele Frauen. "Könnte es sein, dass das die Statistik färbt?", fragte Drosten. Frauen vor der Menopause sind aus hormonellen Gründen besonders anfällig für Thrombosen, sagt Christian Behrendt, Gefäßexperte am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. "Manche Faktoren, etwa die Einnahme der Anti-Baby-Pille und Rauchen, können das Risiko zusätzlich erhöhen."

Dass die Zahl der Hirnvenenthrombosen in manchen Ländern nur deshalb so hoch wirkte, weil besondere Bevölkerungsgruppen geimpft wurden, hält auch die EMA für möglich. Weitere Untersuchungen sollten ihren Fokus darauf richten, sagte Sabine Straus. Auch werde weiter untersucht, ob Rauchen bei den Betroffenen eine Rolle gespielt habe oder gar eine durchgemachte Covid-19-Erkrankung. "Der wissenschaftlichen Literatur ist zu entnehmen, dass junge Menschen, die Covid-19 ohne Symptome durchgemacht haben, später Thrombosen entwickelten", so Straus.

Allein in Deutschland liegen nun zwei Millionen Dosen des Vakzins ungenutzt herum

Sollten sich die erlittenen Thrombosen am Ende aber doch noch als direkte Folge der Impfung herausstellen, könnte sich auch die Impfstrategie ändern: Jüngeren Frauen würde der Astra-Zeneca-Impfstoff dann womöglich nicht mehr empfohlen, womöglich auch nur jüngeren Frauen nicht, die rauchen oder die Pille nehmen. Für andere Altersgruppen aber könnte die Risikobewertung ganz anders ausfallen.

Die in Deutschland für die Impfempfehlungen zuständige Ständige Impfkommission (Stiko) habe bis in den Donnerstagabend "beraten und sehr intensiv diskutiert", teilte der Stiko-Vorsitzende Thomas Mertens der SZ mit. "Sie wird sich zunächst an die aktualisierte EMA-Zulassung mit Warnhinweis halten." Eine Anpassung der Impfempfehlung an verschiedene Bevölkerungsgruppen etwa nach Alter und Geschlecht werde es dagegen erst einmal nicht geben. Dafür sei die Datenlage noch zu unklar, so Mertens.

Für Ältere aber, soviel ist gewiss, ist das Risiko, eine Hirnvenenthrombose zu erleiden, in jedem Fall erheblich geringer, als infolge einer Corona-Infektion zu sterben oder schwerwiegende Komplikationen zu erleiden. Experten hatten sich deshalb bereits dafür ausgesprochen, die Impfungen mit dem Astra-Zeneca-Vakzin möglichst zeitnah wiederaufzunehmen.

"Man sollte nur im Moment vor allem daran denken, dass wir diese Impfung brauchen", sagte Christian Drosten. Denn der Impfstopp führt dazu, dass mehr Menschen an Covid-19 erkranken oder sogar daran sterben werden als mit fortgesetzten Impfungen. Laut Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung (Zi) würde ein dauerhafter Wegfall der Astra-Zeneca-Impfungen die Durchimmunisierung der Bevölkerung um etwa einen Monat verzögern - aber auch nur, wenn alle anderen Impfstoffe nach Plan geliefert und die Hausärzte schnell in die Impfkampagne eingebunden werden.

Besonders kritisch könnte die Situation in den nächsten Wochen werden: Die dritte Corona-Welle nimmt gerade an Fahrt auf, während viele Risikogruppen noch nicht durch eine Impfung geschützt sind. Selbst bei den über 80-Jährigen sind in einigen Bundesländern nicht einmal die Hälfte aller Menschen zumindest mit einer Dosis immunisiert worden. In der Altersgruppe zwischen 50 und 80 sieht es noch viel schlechter aus - doch auch diese Menschen haben ein hohes Risiko, wegen Covid-19 schwer oder gar tödlich zu erkranken. Virologe Drosten spricht dabei von einem "medizinischen Kollateralschaden", der entstehe, wenn nicht geimpft werde. Während die EMA beriet, lagen allein in Deutschland fast zwei Millionen Dosen des Vakzins ungenutzt herum.

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