Das Thema sexualisierte Gewalt, so viel ist klar, wird die evangelische Kirche so schnell nicht loslassen: Am Dienstag hat das oberste Kirchenparlament der EKD die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs zur neuen Ratsvorsitzenden gewählt. Ihre Wahl galt als sicher, doch Fehrs erhielt auffallend viele Gegenstimmen, nämlich 14, und 19 Enthaltungen. 97 der 130 Stimmberechtigten votierten für Fehrs.
Grund für den Dämpfer in Würzburg dürften Vorwürfe gegen Fehrs gewesen sein, die vor ihrer Wahl am Montagabend in der Synode geäußert worden waren. Die EKD hatte die Psychologin Julia von Weiler von der Kinderschutz-Initiative „Innocence in Danger“ als „Anwältin des Publikums“ engagiert, um Wortmeldungen von Missbrauchsbetroffenen zu verlesen – darunter auch die Mail eines Mannes, der eine Betroffene aus Hamburg begleitet. Er wirft Fehrs vor, die Aufarbeitung in dem Fall verschleppt zu haben.
Fehrs nennt die Vorwürfe gegen sich „gegenstandslos“
Worum geht es konkret? Die Sache ist komplex: Die Betroffene soll im Jahr 2020 vor der Hamburger Unterstützungsleistungskommission von ihrem Fall berichtet haben. Fehrs, die der Kommission damals vorsaß, soll dann unmittelbar ihre Befangenheit erklärt haben, weil sie einen, in dem Fall als mutmaßlichen Mitwisser erwähnten Pastor persönlich kennt. Damit sei Fehrs aus allen weiteren Verfahrensschritten ausgeschlossen gewesen, heißt es aus der Nordkirche. Diese weist die Vorwürfe zurück: Der Fall sei noch nicht abgeschlossen, man habe eine „externe Stelle einer anderen Landeskirche“ mit der Prüfung der Vorwürfe der Betroffenen beauftragt.

Auch die Fachstelle für sexualisierte Gewalt in der EKD sieht kein Fehlverhalten von Fehrs. Unmittelbar vor dem Wahlgang tritt Ratsmitglied Andreas Barner ans Pult und sagt, der Rat mache sich diese Einschätzung zu eigen. Fehrs geht dann nach ihrer Wahl sofort auf das Thema Missbrauch und indirekt auch auf die gegen sie erhobenen Vorwürfe ein: „Seit meinem ersten Tag habe ich erlebt, dass der Schmerz und die Wut von Betroffenen groß sein kann“, sagt sie. „Zugleich habe ich gelernt, in ordentlichen Verfahren zu arbeiten, nicht jeden Angriff persönlich zu nehmen und vielmehr den Menschen mit Empathie zu begegnen.“ In der anschließenden Pressekonferenz nennt sie die Vorwürfe „gegenstandslos“.
Mehr als zehn Monate ist es nun her, dass ein Wissenschaftler-Konsortium die sogenannte Forum-Studie vorgelegt hat, die erste große Untersuchung zu Art und Ausmaß sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche. Am Montagnachmittag stellt das „Beteiligungsforum sexualisierte Gewalt in der EKD“ seinen Bericht vor. Im sogenannten BeFo sitzen Betroffene gemeinsam mit Kirchenvertretern an einem Tisch, dem BeFo obliegt es, konkrete Maßnahmen aus der Studie zu entwickeln – zwölf sind es. Dazu gehört ein Recht auf Aufarbeitung. Außerdem soll eine zentrale Ombudsstelle geschaffen werden, die Betroffene bei Konflikten mit Kirche und Diakonie unterstützt. Die Synode will diese Punkte am Mittwoch offiziell beschließen.
Drinnen tagt die Synode, draußen stehen Betroffene
Auf Anerkennungsleistungen müssen die Betroffenen aber weiter warten: Das vorgeschlagene Modell dreht jetzt noch einmal eine Schleife durch alle 20 Landeskirchen und alle 17 diakonischen Verbände. Detlev Zander, Sprecher des BeFo, verbirgt seine Enttäuschung nicht: „Als wir im Frühjahr dachten, wir hätten ein tragfähiges Modell erarbeitet, wurden wir schnell eines Besseren belehrt: zu progressiv, zu viel Geld für zu wenig Tat – so die Einschätzung aus dem Inneren der Kirche.“
Geplant ist jetzt ein zweistufiges Modell: Betroffene sollen zum einen eine individuelle Leistung bekommen – bemessen nach Schwere der Tat und Folgen für den weiteren Lebenslauf. Zum Zweiten soll es, wenn es sich um strafrechtlich relevante Taten handelt, einen Pauschalbetrag von 15 000 Euro geben. Auch für bereits verjährte, strafrechtlich relevante Taten soll es diese Summe geben. Die Entscheidung darüber, wie viel Geld jeder einzelne bekommt und ob der jeweilige Fall strafrechtlich relevant gewesen wäre, sollen unabhängige Anerkennungskommissionen treffen.
Während drinnen die Synode tagt, stehen draußen auf der anderen Straßenseite Betroffene, die sich vom BeFo nicht repräsentiert fühlen. „De facto ist es ein Gremium der EKD“, sagt Jakob Feisthauer, nicht unabhängig genug sei es. „Ich hätte mich sehr gefreut, wenn die Synode uns die Gelegenheit gegeben hätte, hier zu sprechen“, sagt er. Feisthauer war als Jugendlicher von einem Diakon sexuell missbraucht worden. Doch Besuchern könne leider kein Rederecht eingeräumt werden, heißt es seitens der EKD, so steht es auch auf einem eigens aufgebauten Schild im Eingangsbereich. Stattdessen schickt die EKD jene „Anwältin des Publikums“, die in einem Nebenraum mit ihnen spricht.
Vielen Menschen läuft die Zeit davon
„Die Betroffenen haben unter sehr unwirtlichen Bedingungen Heroisches geleistet“, sagt Psychologin Julia von Weiler nach dem Gespräch. „Der Raum war nicht fertig, irgendwann wurden Brezen und Wasser gebracht, die Verunsicherung aufseiten der EKD war spürbar sehr hoch. Bei allem Bemühen, die Betroffenen einbinden zu wollen – das war keine wirklich einladende Situation.“
Am Nachmittag darf Julia von Weiler dann stellvertretend für die Betroffenen, die ohne Rederecht oben auf der Empore Platz nehmen müssen, zur Synode sprechen. Sie erzählt von Betroffenen, die als Kinder in Heimen faktisch Zwangsarbeit leisten mussten. Die nachts vergewaltigt wurden und verprügelt. Die heute in Armut leben und manchmal am Ende des Monats nur noch Knäckebrot mit Schmelzkäse essen.
In stummer Anklage stehen die Betroffenen auf, viele alte Männer, denen die Zeit davon läuft. „60 Jahre hat die Kirche geschwiegen, soll ich noch 60 Jahre warten? Dann wäre ich 140 Jahre alt.“ Schweigend verfolgen die 128 Synodalen die stellvertretend vorgelesenen Zeugnisse der Betroffenen. Applaus. Dann ruft Synodenpräses Anna-Nicole Heinrich den nächsten Tagesordnungspunkt auf. Aber ein junger Synodaler protestiert: Er fordert eine kurze Tagungspause. Einfach weitermachen könne er jetzt nicht.