"Ich bin zutiefst bestürzt darüber, dass in meiner Kirche so etwas möglich war und ist", sagt Braunschweigs Landesbischof Christoph Meyns, Sprecher des Beauftragtenrats der EKD zum Schutz vor sexualisierter Gewalt. "Ich bin zutiefst betroffen über das Unrecht, das Menschen entgegen allem, wofür wir stehen, im Kontext von Kirche und Diakonie angetan wurde." Vermutlich wäre nun eine drückende Stille eingekehrt, im großen "Saal Hanse" im Congress Centrum Bremen.
Weil die Tagung des evangelischen Kirchenparlaments wegen eines Impfdurchbruchs bei einem leitenden Geistlichen allerdings kurzfristig ins Netz verlegt wurde, ist die Stille in erster Linie der dünnen Vor-Ort-Besetzung geschuldet. Der größte Teil der 128 Synodalen, darunter auch Meyns selbst, verfolgt die Tagung bei Zoom. Vor Ort sind neben dem Synoden-Präsidium nur einzelne Betroffene anwesend, um Stellungnahmen abzugeben und später am Abend auf einem Podium zu diskutieren. Meyns sitzt bei seinem Bericht am Schreibtisch, er liest vom Blatt ab und schaut nur selten in die Kamera.

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Auf der Synode 2018 in Würzburg hatte sich die EKD selbst einen Elf-Punkte-Plan gegen sexualisierte Gewalt gegeben. Viele Punkte davon wurden bereits abgehakt, es gibt Meldestellen in den Landeskirchen, eine zentrale Anlaufstelle bei der EKD. Auf Ebene der Landeskirchen außerdem Anerkennungskommissionen und seit September eine einheitliche Ordnung für Anerkennungszahlungen. Auch bei vielen dieser Punkte hapert es noch, kritisieren Betroffene. Wichtiger aber noch: Was Aufarbeitung und institutionelle Verantwortungsübernahme angehe, sei noch viel zu wenig geschehen, fast zwölf Jahre nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals.
"Eine gründliche Aufarbeitung muss passieren, sonst bleibt alles nur hohles Geklingel", sagt Detlef Zander vom Netzwerk Betroffenenforum, der als erster seine Stellungnahme abgeben darf. "Es geht jetzt um die Umsetzung der schön klingenden Pläne. Ich halte es für einen grundsätzlichen Fehler, sich hinter den Kollegen von der katholischen Kirche zu verstecken. Wie war das noch mit dem Balken im eigenen Auge?"
Die Kirche glaube, ihr eigenen Fehler aufarbeiten zu können
"Die Kirche muss wegkommen vom Einzelfallmythos", sagt Henning Stein, dessen körperbehinderter Sohn in einer evangelischen Einrichtung missbraucht wurde. "Die Kirche glaubt, sie kann sich selbst aufarbeiten. Aber niemand kann sich selbst auditieren." Er fordere deshalb eine staatliche Wahrheitskommission. Matthias Schwarz, Pfarrer und Betroffener, beklagt die mangelhafte Kommunikation mit dem Beauftragtenrat, "wir tauchen nur als Objekt auf, über das man redet, nicht als Subjekt, mit dem man redet." Karin Krapp, Betroffene und selbst Pfarrerin, hadert mit der evangelischen "Betroffenheitslyrik", die ihr im Missbrauchskontext oft begegne: "Betroffenheit als Reaktion auf uns Betroffene reicht nicht. Ich fordere Klarheit - und Sie reagieren mit einer Umarmung", bringt sie das Gefühl vieler im Kontakt mit kirchlichen Stellen auf den Punkt.
Schlag auf Schlag reihen sich die Statements aneinander, ohne Pause, einer nach dem anderen führt Kirchenleitung und Synodalen das Versagen ihrer Institution vor Augen. Dass Betroffene auf der Synode zu Wort kommen, ist insofern bemerkenswert, als dass es einen Betroffenenbeirat im Moment nicht gibt. Im Frühjahr wurde er von der EKD nach gerade mal einem halben Jahr Arbeit einseitig ausgesetzt. Zuvor hatte es fünf Rücktritte gegeben, das verbliebene Gremium sei gespalten gewesen, so Meyns. Aber: "Der Beauftragtenrat wird nichts unversucht lassen, um eine neue, bessere Struktur für die Beteiligung Betroffener und seiner Arbeit zu finden und zu etablieren". Eine "Expertin für Partizipations- und Beteiligungsstrukturen" sei nun mit einer "Expertise" beauftragt worden, unterstützt werde sie von einer Expertin für Traumata.
"Wir haben erfahren, dass es auf unserem Weg harte Rückschläge geben kann", sagt Meyns. "Wir werden trotzdem nicht nachlassen. Wir lernen aus unseren Erfahrungen, ziehen die Konsequenzen und versuchen es erneut." In der anschließenden Aussprache zeigte sich die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs, die vor Meyns zuständig für das Thema war, sehr angefasst: "Es tut mir sehr leid", sagte Fehrs. Dies sei "ein "Moment von Selbstkritik, bei dem man auch diese Verantwortung übernehmen muss". Man habe den Versuch unternehmen wollen, "nicht paternalistisch und nicht als machtvolle Kirche den Rahmen von Betroffenenratsarbeit zu setzen", sagte sie. Herausgekommen ist, so kritisieren Betroffene, ein Gremium ohne Konzept und ohne klare Zielvorgabe. Fehrs gilt als eine Favoritin für die Nachfolge von Heinrich Bedford-Strohm im Ratsvorsitz.
Betroffenenbeteiligung sei "die stärkste Waffe gegen sexualisierte Gewalt im eigenen Haus", sagt Detlev Zander. "Wir wollen gemeinsam mit Ihnen Ihren Keller aufräumen und auch in die dunklen Winkel fassen." Dass der Betroffenenbeirat ausgesetzt wurde, sei für ihn "im Nachhinein richtig", sagt Zander. "Bedenken und Sorgen hatten uns gelähmt", jetzt gehe es darum, mit Plan und Struktur wieder loszulegen. Die Debatte war bei Redaktionsschluss noch nicht beendet.
Die Präses der Synode, Anna-Nicole Heinrich, will das Thema zudem stärker auf den jährlichen Synodentagungen verankern. Auf Ebene der Synode soll sich außerdem, so ein Antrag des Präsidiums, eine Kommission künftig um das Thema kümmern, unter Beteiligung von Betroffenen - das kann auch als Distanzierung vom Beauftragtenrat verstanden werden. Am Mittwoch soll über den Antrag abgestimmt werden. "Die Wunden sind tief, der Vertrauensverlust lässt sich nicht mit schönen Worten kleinreden, und das will auch niemand", sagt Heinrich. Nun müsse die Kirche ein höheres Tempo vorlegen. Geplant sei unter anderem eine Verschärfung des kirchlichen Disziplinarrechts. Die Begleitung von Betroffenen soll verbessert, der Zugang zu Informationen für sie erleichtert werden. "Das Ziel ist: Null Toleranz für Täter, maximale Transparenz für Betroffene", so Heinrich.
Nicht alle ehemaligen Beiratsmitglieder wollten sich auf der Synode äußern, sie waren unter anderem mit den Rahmenbedingungen - die Statements mussten zwei Wochen vorher bei der EKD eingereicht werden - nicht einverstanden. Darunter Katharina Kracht, die bereits am Sonntag bei einer Pressekonferenz hart mit Bischof Meyns ins Gericht gegangen war: "Ich erlebe immer wieder, dass er über das Leid und den Schmerz redet. Aber dass es eine Verantwortung seiner Organisation gibt, das ist bei ihm nicht angekommen", sagt Kracht.
"Wenn Betroffene vereinzelt werden, erfährt keiner vom Leid der anderen"
Kerstin Claus, Mitglied im Betroffenenrat des Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, forderte die EKD auf, Vernetzung der Betroffenen zu ermöglichen: Nur so entstehe Transparenz über Anerkennungsverfahren, über Standards und Hilfen im Umgang mit Betroffenen. "Wenn Betroffene vereinzelt werden, erfährt keiner vom Leid der anderen", sagt Claus. "Bis heute wird - wenn Täternamen bekannt werden - in Gemeinden nicht aktiv nachgeforscht, ob der Täter vielleicht auch woanders auffällig wurde." Und anders als in der katholischen Kirche würden Pflichtverletzungen Verantwortlicher in der evangelischen Kirche überhaupt nicht erforscht.
Die Synodalen sollten "die Rhetorik ihrer eigenen Kirche hinterfragen", fordert Katharina Kracht. "Viele haben immer noch das Bild von sich als das der besseren Kirche."