Süddeutsche Zeitung

Missbrauch in der evangelischen Kirche:Forscher suchen Betroffene

Eine Studie über sexualisierte Gewalt in evangelischen Einrichtungen ist auf Menschen angewiesen, die über ihr Leid sprechen. Doch es gibt Hindernisse.

Von Annette Zoch, München

"Schweigen stärkt die Macht der Täterinnen und Täter", sagt Detlev Zander. "Das Schweigen zu brechen kann helfen - aber es muss auch jemand zuhören." Zander war als Kind jahrelang schwerer sexualisierter, psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt, im evangelischen Kinderheim der Brüdergemeinde Korntal bei Stuttgart. 2014 machte er diesen Missbrauchsskandal öffentlich. Zander gründete das "Netzwerk Betroffenenforum" - und ist heute einer von drei sogenannten Co-Forschenden einer Studie zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und der Diakonie.

Am Donnerstag stellten die Wissenschaftler ihre Studie in München vor - und riefen Betroffene auf, sich zu melden. Erst sieben Interviews seien seit dem Sommer geführt worden, sagt Helga Dill vom Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) München. "Das ist nicht viel, das reicht nicht aus, um die ganze Bandbreite sexualisierter Gewalt im Bereich der EKD abbilden zu können."

Dabei sei die Studie "ein Meilenstein", wirbt Detlev Zander: Es ist das erste Mal, dass Betroffene nicht nur "beforscht werden" oder beraten dürfen, sondern explizit in die Untersuchung mit eingebunden seien. Zum Beispiel entwickelten die Co-Forschenden die Fragebögen mit, sagt Zander. Teilnehmern würde auf Wunsch auch psychologische und traumatherapeutische Hilfe zur Seite gestellt. An den Interviews und deren Auswertung sind die Co-Forschenden allerdings nicht beteiligt. Die Forscher wollen alle Bereiche evangelischer Einrichtungen und Gemeinden untersuchen: Seelsorge, Gemeindearbeit, Jugendarbeit und Jugendfreizeiten, Konfirmandengruppen, Chöre, auch Einrichtungen der stationären Jugendarbeit oder der Behindertenhilfe. Auch evangelische Freikirchen seien im Blick.

Für die katholische Kirche liegt eine umfassende Missbrauchsstudie, die so genannte MHG-Studie, schon seit 2018 vor. Diese stütze sich zwar vor allem auf Akten aus den Diözesen, nannte aber systemische Faktoren, die Missbrauch begünstigt hätten. Systemische Antworten soll auch die Studie für die evangelische Kirche finden. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hatte sich im Jahr der Veröffentlichung der MHG-Studie dazu verpflichtet, ebenfalls eine Studie zu beauftragen.

Warum melden sich nicht mehr Betroffene?

Zwei Jahre später, im Dezember 2020, startete dann ein an der Hochschule Hannover angesiedelter Forschungsverbund namens "Forum" mit der Arbeit, zu der auch die Koordination von fünf Teilstudien zählt. In ihnen werden Akten ausgewertet sowie Akteure der Kirche, Betroffene und wenn möglich auch Täterinnen und Täter befragt. Darunter ist die Studie des IPP und des Berliner Vereins "Dissens", die speziell die Betroffenenperspektive beleuchten soll.

Das IPP hat jahrelange Erfahrung in der Erforschung sexualisierter Gewalt. Das Münchner Institut untersuchte unter anderem die Schicksale bayerischer Heimkinder, die Odenwaldschule, das Kloster Ettal, das Stift Kremsmünster in Österreich sowie Missbrauchsfälle in den katholischen Bistümern Hildesheim und Essen.

Die Ergebnisse sollen Ende 2023 in einem Bericht veröffentlicht werden. Auch am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) ist eine Teilstudie zur Perspektive Betroffener angesiedelt, neben persönlichen Interviews sollen hier auch anonyme Online-Befragungen Erkenntnisse beitragen.

Aber woher rührt die Zurückhaltung der Betroffenen? Auf die erste Ankündigung zum Start des Forschungsvorhabens habe er eine "relativ große Zahl an Mails" bekommen, sagt Martin Wazlawik, Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule Hannover und Koordinator des Forschungsverbunds. Doch das schlug sich offenbar nicht in Interviews nieder. "Vielleicht ist noch nicht ausreichend bekannt, dass wir Forscher wirklich unabhängig von der EKD sind", sagt Helga Dill. Zwar finanziert die EKD die Forschung mit mehr als 3,6 Millionen Euro, die Kirche habe aber weder Mitsprache- noch Vetorecht, erklärt Wazlawick.

Missbrauch im evangelischen Umfeld ist kein Einzelfall, sagt Experte Wazlawik

Im Gegensatz zur katholischen Kirche, in der sehr breit über das Thema diskutiert werde, gebe es bei Betroffenen aus dem evangelischen Kontext außerdem immer noch den Eindruck, dass das eigene Schicksal nur ein isolierter Einzelfall sei, sagt Wazlawick: "Das hindert auch daran, sich bei uns zu melden. Aber wir haben nicht das Gefühl, dass es sich da um Einzelfälle handelt, das legen ja auch die Zahlen der EKD nahe."

Das Ausmaß sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche ist allerdings nur vage bekannt. Etwa 900 Betroffene haben sich bislang bei den Landeskirchen gemeldet. Nach Ansicht der Experten dürften deutlich mehr Menschen betroffen sein. Detlev Zander fürchtet, die EKD könne am Ende sagen: Seht her, wir haben ja wirklich nicht so viele Fälle wie die katholische Kirche. "Die EKD hat ihre Skandale schon immer gut verstecken können."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5451642
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/skle
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.