Einwanderungsdebatte in der Schweiz:Suche nach dem rechten Maß

Fast jeder vierte Einwohner der Schweiz ist ein Ausländer. Auf Deutschland übertragen wären dies 20 Millionen. Bald stimmen die Eidgenossen darüber ab, ob der Zuzug von EU-Bürgern begrenzt wird. Es geht vor allem um eine Frage: Tragen die Migranten zum Aufschwung bei oder nehmen sie Jobs weg?

Von Wolfgang Koydl, Zürich

Klein-London im Wallis: Verbier ist very british

Touristen genießen eine Auszeit in Verbier im Kanton Wallis. Einen beträchtlichen Teil der Schweizer Gastronomie und andere Dienstleistungsbereiche bestreiten mittlerweile Einwanderer.

(Foto: dpa-tmn)

Die Abbildung sieht aus wie ein komplizierter Schnittmusterbogen, den man über eine Karte der Schweiz gelegt hat. Zickzack, kreuz und quer, hin und her ziehen sich die bunten Linien zwischen St. Gallen und Genf, zwischen Schaffhausen und dem Gotthard. Sie illustrieren die Reiserouten dreier Schweizer Minister in den vergangenen Wochen, und das Netz wird in den kommenden Tagen noch viel enger gewoben werden. Denn die Regierungsmitglieder versuchen zu verhindern, was manche im Land als Katastrophe empfinden: Ein Ja der Wähler zu einer Volksinitiative gegen "Masseneinwanderung".

Am 9. Februar werden die Schweizerinnen und Schweizer über die Vorlage abstimmen, und eigentlich dürfte es am Ergebnis nicht den Schatten eines Zweifels geben. Denn die Liste der Neinsager ist lang und einflussreich: Industrie und Gewerbe, Arbeitgeber und Gewerkschaften, politische Parteien von links bis bürgerlich rechts - sie alle beschwören den Souverän, das Volk, die freie Zuwanderung aus der Europäischen Union nicht anzutasten.

Denn die Wirtschaft will weiter aus einem 500-Millionen-Pool an potenziellen Arbeitskräften schöpfen: Schon jetzt arbeiten 20 000 Ausländer in der Schweizer Landwirtschaft, in der Hotellerie kommen 40 Prozent des Personals aus dem Ausland, in den Chemie-, Pharma- und Biotech-Branchen stammen 45 Prozent der Mitarbeiter aus der EU, und gut jeder vierte in der Schweiz praktizierende Arzt ist Deutscher.

Aktuell keine Mehrheit für die Initiative

Doch auf Vorgaben von Politikern und Verbandsvorsitzenden achtet der Schweizer selten. Im Gegenteil: Hat er das Gefühl, dass man ihm etwas vorzuschreiben versucht, entscheidet er sich häufig erst recht für das Gegenteil. "Es brodelt im Volk, das macht der Regierung Kummer", hat denn auch Adrian Amstutz angesichts der hektischen Reisetätigkeit der Minister konstatiert. Amstutz ist Fraktionschef der konservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP), welche die Initiative auf den Weg gebracht hat und sie als einzige nennenswerte politische Kraft unterstützt. Prägnanter brachte die Boulevardzeitung Blick die Stimmung auf den Punkt: Sie nannte die ministerielle Schweiz-Tour "Tour de Schiss" - weil die Regierung sich in die Hose mache.

Dabei scheint derzeit kein Grund zur Sorge zu sein, schließlich zeichnet sich noch keine Mehrheit für die Initiative ab. 53 Prozent der Wählerinnen und Wähler würden den Vorschlag ablehnen, wenn jetzt abgestimmt würde. In der Westschweiz wären es sogar noch mehr. Aber das heißt nicht viel, denn frühe Umfragen sind notorisch unzuverlässig in der Schweiz, und die heiße Phase des Wahlkampfes hat erst jetzt, nach den Feiertagen, begonnen.

Konkret geht es darum, dass die SVP die Bundesregierung zwingen will, neu mit der EU-Kommission über die Personenfreizügigkeit für EU-Bürger zu verhandeln und letzten Endes zu einem System von Kontingenten zurückzukehren. Der freie Personenverkehr ist seit 2007 in Kraft und hat dem kleinen Land jedes Jahr einen Nettozuwachs von etwa 70 000 Zuwanderern beschert. Sie kommen mehrheitlich aus Italien, Deutschland und Portugal, aber auch aus mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten der Union. Sie wurden angelockt durch den ungebrochenen Wirtschaftsboom im Land. Kaum jemand bestreitet, dass die Einwanderer gleichzeitig zum Aufschwung beigetragen haben. Von einem veritablen "Arbeitsplätze-Boom" schwärmt der arbeitgebernahe Thinktank Avenir Suisse.

Massiver Zustrom verursacht Engpässe

Das Problem ist freilich, dass für viele Schweizer eine kritische Masse an Ausländern erreicht, wenn nicht gar überschritten worden ist - mit Folgen für die Infrastruktur, den Wohnungsmarkt und das Selbstverständnis des gehobenen Mittelstands, dem Fremde die Arbeitsplätze streitig machen. Deren Anteil an der Wohnbevölkerung beträgt 23,3 Prozent.

Umgerechnet auf die Schweizer Nachbarstaaten bedeutete dies 20 Millionen ausländische Mitbürger in Deutschland, 15 Millionen in Frankreich, und zwei Millionen im kleinen Österreich. In manchen eidgenössischen Kommunen sind die Zahlen weit höher: 40 Prozent in Genf, mehr als 30 Prozent in Basel, Zürich und Lugano. Nicht eingerechnet sind Zehntausende Pendler, die täglich über die Grenze kommen. Christoph Blocher, der Spiritus Rector der SVP, lag wohl nicht ganz daneben, als er mutmaßte: "In anderen Ländern gäbe es bei einem solch massiven Zustrom eine Revolution."

Sorge um das Verhältnis zur EU

Genau ein solcher Umsturz wird freilich im ohnehin schon alles andere als unbelasteten Verhältnis der Schweiz zur EU befürchtet, falls die Wähler die Vorlage annehmen. Richard Jones, EU-Botschafter in Bern, schloss Neuverhandlungen für diesen Fall schon mal kategorisch aus. Sein diplomatisches Pendant in Brüssel, der Schweizer Botschafter Roberto Balzaretti, drückte es lediglich höflicher aus: "Ich bin überzeugt: Die EU wird kaum so tun, als sei nichts geschehen." Dies umso weniger, als die Debatte über die Personenfreizügigkeit ja derzeit auch in EU-Mitgliedstaaten tobt, von Britannien bis Bayern.

Besonders besorgte Schweizer befürchten daher, dass Brüssel an ihrem Land ein Exempel statuieren könnte, um potenzielle Nachahmer in den eigenen Reihen abzuschrecken. Ein erstes Opfer könnten die für dieses Jahr geplanten schwierigen bilateralen Gespräche über eine Ausweitung der Zusammenarbeit und vor allem über Regeln für die Übernahme von EU-Recht durch die Schweiz sein.

Die Personenfreizügigkeit ist eines von sieben Abkommen, die unter dem Rubrum Bilaterale I die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union festschreiben. Wird eine Übereinkunft ausgesetzt, dann fallen automatisch auch die anderen sechs. Das Verfahren trägt den einprägsamen Namen "Guillotine". Politiker wie Blocher freilich reagieren gelassen: "Diese Abkommen nützen vor allem der EU", sagt er. "EU-Staaten handeln doch nicht gegen ihre eigenen Interessen." Schon möglich, denkt man etwa daran, dass in diesem Fall die Schweiz ihre Straßen für europäische 40-Tonnen-Laster schließen könnte.

Bevölkerungszuwachs pro Jahr genauso hoch wie in Indien

Doch unabhängig davon, wie die Abstimmung am 9. Februar ausgeht, ist das Thema Einwanderung damit noch nicht vom Tisch. Als Nächstes entscheiden die Schweizer Wähler darüber, ob die Freizügigkeit auch für den EU-Neuling Kroatien gelten soll. Im nächsten Jahr dann kommt die ökologisch geprägte Ecopop-Initiative vors Volk. Sie will die jährliche Zuwanderung auf 0,2 Prozent beschränken, um "die natürlichen Lebensgrundlagen" zu sichern. Derzeit liegt der jährliche Bevölkerungszuwachs in der Schweiz bei mehr als einem Prozent, fünfmal so viel wie in Europa, und gleich hoch wie in Indien.

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