Einstweilige Anordnung gegen Vorratsdatenspeicherung:Das Verfassungsgericht zieht die Notbremse

Das Verfassungsgericht hängt etliche Waggons ab und lässt das Gesetz vorläufig nur in sehr langsamer Fahrt weiterfahren - wegen "erheblicher Gefährdung des Persönlichkeitsschutzes".

Heribert Prantl

Die Quarantäne ist eine seuchenhygienische Maßnahme; sie soll verhindern, dass epidemische Infektionskrankheiten eingeschleppt werden. Nach dem Bundesseuchengesetz können Tiere und Menschen in Quarantäne genommen werden. Das Bundesverfassungsgericht macht dies nun auch mit einem Gesetz - mit dem Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung, das seit Jahresanfang in Kraft ist.

Einstweilige Anordnung gegen Vorratsdatenspeicherung: Vorratsdatenspeicherung: Das Bundesverfassungsgericht sorgte für eine kleine Sensation - auch wenn die Kläger sicherlich mehr erwarteten.

Vorratsdatenspeicherung: Das Bundesverfassungsgericht sorgte für eine kleine Sensation - auch wenn die Kläger sicherlich mehr erwarteten.

(Foto: Foto: dpa)

Dies Gesetz muss in Quarantäne, weil sonst eine epidemische Infektion der Grundrechte zu befürchten ist: Mit einer Eilentscheidung verbietet das höchste Gericht daher die uferlose Verwendung gespeicherter Telekommunikations-Daten für alle nur erdenklichen Sicherheitszwecke. Zugleich kündigt das Gericht echt deutlich an, dass es die schon in Arbeit befindlichen Gesetze von Bund und Ländern, die der Polizei und den Geheimdiensten den Zugriff auf die Telefon- und Internetdaten aller Bürger geben wollen, nicht akzeptieren wird. Das neue Gesetz kann also in einigen Teilen vorläufig nicht angewendet werden.

Das gilt bis zur Entscheidung in der Hauptsache, also bis zum Urteil. Bis dahin dürfen, so die Richter, die zwangsgespeicherten Daten aller Bürger nur an die Strafverfolgungsbehörden, nur mit Genehmigung des Ermittlungsrichters und nur zur Verfolgung schwerer Straftaten herausgegeben werden. Das gestoppte Gesetz wollte hingegen viel mehr erlauben.

Das neue Telekommunikationsgesetz darf also in wesentlichen Teilen vorläufig nicht angewendet werden. Das gilt bis zur Entscheidung in der Hauptsache, also bis zum Urteil. Bis dahin dürfen, so die Richter, die zwangsgespeicherten Daten aller Bürger nur an die Strafverfolgungsbehörden, nur mit Genehmigung des Ermittlungsrichters und nur zur Verfolgung schwerer Straftaten herausgegeben werden. Das Gesetz wollte hingegen viel mehr erlauben.

Weniger, als die Kläger erhofft hatten

Die Eilentscheidung ist eine neue Station im großen Ringen zwischen dem Bundesverfassungsgericht und der Politik, das nun schon einige Jahre anhält: Das höchste Gericht mahnt den Gesetzgeber immer eindringlicher zur Beachtung der Freiheits- und der Bürgerrechte.

Der Teil-Stopp des Gesetzes per Eilentscheidung ist weniger, als die Kläger erhofft hatten, aber mehr, als objektiv zu erwarten war: Es handelt sich schon um eine kleine Sensation, dass überhaupt eine einstweilige Anordnung gegen das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung erlassen wurde.

Dieses Gesetz verpflichtet die privaten Provider, alle elektronischen Spuren des Telekommunikationsverkehrs sechs Monate lang für die Sicherheitsbehörden zu speichern (auch wenn der Provider sie für seine eigenen Abrechnungszwecke nicht oder nicht mehr braucht), und sie zum sofortigen Abruf bereit zu halten.

Gespeichert wird doppelt, nämlich der Absender und der Empfänger, gespeichert wird, wer mit wem über Festnetz oder mobil telefoniert, wer an einem Chat teilnimmt, wer an wen eine E-Mail oder eine SMS versendet, von welchem Standort aus, wohin, wann und wie lange. Die Daten, die durch Inanspruchnahme des Internets ohne individuelle Kommunikation entstehen, kommen hinzu.

Die Speicherung also wird nun vom Verfassungsgericht vorläufig zugelassen, der vorgesehene umfassende Abruf der Daten durch die Sicherheitsbehörden aber nicht. Das Gericht akzeptiert den Zugriff auf die Daten bei der Verfolgung von schwerwiegenden Straftaten - wie gesagt vorläufig.

Ernsthafte Zweifel

Es lässt dabei den langen Straftaten-Katalog nach Paragraf 100 a Strafprozessordnung gelten, der im angefochtenen Gesetz genannt wird. Der handelt nicht nur von Mord, Totschlag und kriminellen Vereinigungen, sondern auch von Subventionsbetrug, Urkundenfälschung, Steuerhinterziehung und missbräuchlicher Asylantragsstellung. Das Gericht gibt freilich zu erkennen, dass ihm dieser Katalog unangemessen umfangreich erscheint - und dass man ihn nur mit Grimmen vorläufig zulässt.

Eilentscheidungen im Rahmen von Verfassungsbeschwerden sind sehr selten. Die Eilentscheidung ist hier eine Notbremse, die vom höchsten Gericht gezogen wird: Das Gericht hat dies mit seiner Entscheidung getan - und es lässt nun den Zug, von dem eine Reihe von Wagen abgekoppelt werden mussten, nur mit langsamer Geschwindigkeit weiterfahren.

Die Richter verweisen in ihrem 29-seitigen Beschluss mehrmals darauf, wie streng die Voraussetzungen an eine einstweilige Anordnung im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde sind: Das Gericht dürfe "von seiner Befugnis, das In-Kraft-Treten eines Gesetzes zu verzögern, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen".

Die Voraussetzungen, auch darauf weist das Gericht hin, sind noch einmal dadurch verschärft, weil es im angefochtenen Gesetz um die Umsetzung teilweise zwingender europarechtlicher Vorgaben geht; durch eine Außerkraftsetzung des Gesetzes könnte sich Deutschland also einer Vertragsverletzung schuldig machen. Dass sich das Gericht gleichwohl zum partiellen Stopp des Gesetzes entschlossen hat, belegt, dass es sehr ernsthafte Zweifel an der Vorratsdatenspeicherung hat.

Geschichte der Schrumpfung des Grundrechtsbewusstseins

Die Sätze des Verfassungsgerichts schon in der Eilentscheidung sind von großer Eindringlichkeit: "Die Möglichkeit des Zugriffs auf sämtliche durch eine Inanspruchnahme von Telekommunikationsdiensten entstandenen Verkehrsdaten bedeutet eine erhebliche Gefährdung des im Artikel 10 Grundgesetz verankerten Persönlichkeitsschutzes ... Von der Datenbevorratung ist annähernd jeder Bürger bei jeder Nutzung von Telekommunikationsanlage betroffen, so dass eine Vielzahl von sensiblen Informationen über praktisch jedermann für staatliche Zugriffe verfügbar ist".

Das Gericht konstatiert eine "flächendeckende Erfassung des Telekommunikationsverhaltens der Bevölkerung weit über den Einzelfall hinaus". Es befürchtet Gefahren für "die Unbefangenheit des Kommunikationsaustauschs".

Die Geschichte des Gesetzes über die Vorratsdatenspeicherung ist eine Geschichte der Schrumpfung des Grundrechtsbewusstseins: Schon Mitte der neunziger Jahre hatten sich nämlich viele Kriminalisten nicht mehr damit zufriedengeben wollen, dass Behörden nur im Einzelfall auf schon vorhandene (zu Abrechnungszwecken der Firmen festgehaltene) Verbindungsdaten zugreifen durften.

Sie forderten damals, diese Daten umfassend und vorsorglich für Zwecke der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr zu speichern. Einen entsprechenden Vorstoß des Bundesrats lehnte aber 1997 die Regierung Helmut Kohl ab, weil eine so pauschale Vorratsspeicherung nicht mit der Verfassung vereinbar sei.

Das Verfassungsgericht zieht die Notbremse

Eindringlich warnten die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder vor einer Vorratsdatenspeicherung: Sie sei geeignet, "das Vertrauen des Einzelnen in die Nutzung moderner Kommunikationsmittel nachhaltig zu beeinträchtigen".

Das Bundesverfassungsgericht beschrieb diese Gefahr schon im Jahr 2003 so: "Es gefährdet die Unbefangenheit der Nutzung der Telekommunikation und in der Folge die Qualität der Kommunikation einer Gesellschaft, wenn die Streubreite der Ermittlungsmaßnahmen dazu beiträgt, dass Risiken des Missbrauchs und ein Gefühl des Überwachtwerdens entstehen."

Erst die geänderte Stimmungslage nach den terroristischen Anschlägen von 2001 in den USA und von 2004 in Madrid ließ die Ablehnungsfront bröckeln. Die Madrider Terroristen, die am 11. März bei einer Serie von Bombenattacken auf Züge 191 Menschen ermordeten und 2051 verletzten, hatten nämlich Mobiltelefone zur Fernzündung ihrer Bomben eingesetzt.

Dass die Täter aufgrund der ohnehin vorhandenen Telekommunikationsdaten, also ohne Vorratsdatenspeicherung, gefasst werden konnten, wurde in der Diskussion kaum mehr zur Kenntnis genommen. Der EU-Rat für Justiz und Inneres forderte die Europäische Kommission auf, "entsprechende Vorschläge" zu erarbeiten. Besonders der ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily machte sich dafür stark.

Für einen entsprechenden Rahmenbeschluss gab es in der Europäischen Union aber nicht die erforderliche Einstimmigkeit; deshalb legte die Kommission stattdessen, nun gestützt auf die Normen des EG-Vertrages zur Verwirklichung des Binnenmarktes, eine Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung vor; diese wurde dann mit Zustimmung der Bundesregierung und unter Abnicken des Bundestags (der aber einige Bedenken gegen die Rechtsgrundlage dieser Richtlinie erhob) in Kraft gesetzt.

Sicherheitsmaßnahmen als Wirtschaftsmaßnahmen ausgegeben

Die EU-Mitgliedsländer Irland und Slowakei erhoben vor dem Europäischen Gerichtshof Nichtigkeitsklage: Sie bestreiten, dass die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung eine vertragliche Grundlage hat. Nicht ganz ohne Grund, denn die dritte Säule der Europäischen Union, sie betrifft die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit der EU-Mitgliedsstaaten in Strafsachen, basiert nicht auf Gemeinschaftsrecht, sondern auf zwischenstaatlichem Recht, sie ist also dem Völkerrecht zugeordnet.

Folglich bedürfen Rahmenbeschlüsse, die auf diesem Felde allein geschlossen werden dürfen, der Zustimmung jedes einzelnen europäischen Mitgliedsstaats, können also nur einstimmig getroffen werden, binden die Mitgliedsstaaten nur in den Zielen und müssen, um überhaupt wirksam zu werden, von den nationalen Parlamenten umgesetzt und konkretisiert werden.

Gelingt dies mangels Einstimmigkeit nicht, ist für weitere Rechtsetzungen kein Raum mehr. Im Fall der Vorratsdatenspeicherung hat die Europäische Union daher zu einem Trick gegriffen - und eine angebliche Rechtsgrundlage für die entsprechende Richtlinie in den Bestimmungen über den Binnenmarkt entdeckt.

Man tat so, als ginge es bei der Vorratsspeicherung der Telekommunikationsdaten um eine Wettbewerbsregelung für die Provider. Sicherheitsmaßnahmen wurden also, zum Zweck einer europaweiten Regelung der Vorratsdatenspeicherung, als Wirtschaftsmaßnahmen ausgegeben.

Vom ursprünglichen Anlass der Vorratsdatenspeicherung, also der Vorbeugung gegen terroristische Anschläge und deren Verfolgung, hat sich die umstrittene gesetzliche Regelung weit entfernt: Es geht bei der Vorratsdatenspeicherung gar nicht primär um die Aufklärung schwerster Verbrechen, auch nicht um eine konkrete Gefahr für den Bestand und die verfassungsmäßige Ordnung von Bund und Ländern.

Die Telekommunikationsdaten eines jeden Einwohners der Bundesrepublik (wie aller Einwohner der Europäischen Union) müssen nun abrufbereit vorgehalten und gespeichert werden für praktisch jede staatliche Anfrage - zur Aufklärung oder zur Vorbeugung nicht nur terroristischer, sondern aller nur erdenklichen Delikte; auch nur pauschal zur Abwehr von Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit; oder schlichtweg dafür, dass sich die Geheimdienste aus irgendeinem Grund, den sie niemandem sagen müssen, dafür interessieren.

Wann immer irgendeine Straftat "mittels Telekommunikation begangen" wurde, werden soll oder vielleicht werden könnte, kann auf die Daten zugegriffen werden; also praktisch immer; Telefon oder Internet sind nämlich heutzutage immer im Spiel. Die Zweckbindung des staatlichen Datenzugriffs an die Verfolgung schwerer Straftaten, die zuletzt schon sehr porös geworden war, ist nun aufgegeben. Die Unschuldsvermutung wird ad absurdum geführt.

Wenn auf Jeden zugegriffen werden kann, besteht die "Schuld" in der bloßen Nutzung von Telefon und Internet. Die Politik der inneren Sicherheit beruft sich wieder einmal auf den törichten Satz: "Wer nichts zu verbergen hat, hat ja nichts zu befürchten".

Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Satz wieder einmal durchgestrichen - und ein Signal für die Verfassungswidrigkeit des gesamten Gesetzes gesetzt.

Von Heribert Prantl ist soeben im Droemer-Verlag sein neues Buch erschienen: "Der Terrorist als Gesetzgeber. Wie man mit Angst Politik macht".

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